«lieber zweifeln als irren.»

matthias kuhn im gespräch mit h.r. fricker.
dienstag, 18. märz 2003, projektraum exex st.gallen.

flieger und ballonfahrer

h.r. fricker ich möchte dir hier etwas vorlesen: «noch möchte ich auf eine erscheinung hinweisen, die für flieger und ballonfahrer in gleicher art zur geltung kommt.» ich muss dazu sagen, albert heim, der ja ein geologe war, hat 1898 zusammen mit spelterini einen flug über die alpen gemacht. spelterini musste einen ballon bauen, der so gross war, dass man damit allenfalls hätte über die alpen fliegen können. er schreibt, es sei vorher einmal einer mit dem ballon zufällig über die alpen geflogen, weil er nachts mit mehr rechtzeitig landen konnte, und dann hätte es ihn über die alpen geweht.

kuhn: spelterini war ballonfahrer?

fricker: ja, er war ballonfahrer, hat etwa 700 flüge gemacht, mit über 1300 gästen. er ist auch nach kairo gefahren, um dort ballonflüge zu machen. er hat aber auch die ersten gebirgsaufnahmen gemacht.
heim hat 1903 ein alpsteinrelief gemacht. er schrieb, dass er festgestellt habe, als er mit dem ballon über die berge geflogen sei, dass diese berge ganz anders ausgesehn hätten von weitem. er hat das umgesetzt in ein relief, dabei ging es ihm vor allem auch um die farben des alpsteins. um 1900 stand er einmal 3200 meter über wil und hat sich von da aus genau aufgeschrieben, wie die farben aussehen. obwohl er doch geologe war, hat er ein buch herausgegeben über luftfarben. was ich dir hier vorlesen will, zeigt ja auch, dass diese wissenschaftler ein ästhetisches empfinden hatten. er überlegte sich, wieso wir abendrot sehen und wieso wir es in den bergen anders sehen, als im flachland und wurde um diese fragen zu klären schnell zum optiker.

kuhn: das heisst, wenn ihn ein thema interessiert, dann arbeitet er sich ein und wird ein fachmann?

fricker: ja, genau. das ist mir auch bei emil bächler aufgefallen und bei andern forschern auch. das geht zum teil bis in die moraltheologie hinein. sie gehen davon aus, dass wissenschaftliches forschen gewissen kriterien unterliegt - zum beispiel wahrheitsfindung oder vergleichen, beweisen und so weiter - und dann sagen sie, wenn ich das auf dem einen gebiet beherrsche, dann kann ich's auf einem andern auch. es ist dann nur noch eine frage des arbeitsaufwandes. heim hat auch ein buch herausgegeben über die fortpflanzung des menschen, über die sexualität.

kuhn: und wie beurteilst du das? geht das? gelingen diese seitensprünge? wenn diese forscher sich auf ihrem fachgebiet methoden entwickeln, die zu resultaten und erkenntnissen führen, wäre es doch interessant, wenn diese methoden auch auf andern gebieten zu ergebnissen führen würden.

fricker: wahrscheinlich gelingt das schon. ich kann nicht beurteilen ob das jetzt gerade mit der farbenlehre so ist ... aber diese forscher haben wirklich auch interdisziplinär gearbeitet, die arbeiteten zusammen und halfen sich gegenseitig. heim hat zum beispiel auch ein buch geschrieben über die hunderasse labrador. er gilt als ausgewiesener forscher auf diesem gebiet. sein buch ist heute ein standardwerk.
und der sohn von albert heim, arnold heim, der ebenfalls geologe wurde, hat 1942 über moral geschrieben. da steckt, glaube ich, etwas anderes dahinter: bei diesen forschern habe ich den eindruck, die haben sich für die menschheit verantwortlich gefühlt.
warum fühlt sich ein geologe verantwortlich für die menschheit? ich habe den eindruck, da spielt folgendes mit hinein: ein geologe widerlegt mit allem was er erforscht immer noch das, was die kirche vorgibt, er bewegt sich auf einem heiklen gebiet. diese forscher haben doch zum beispiel damit begonnen, mit unendlichkeiten zu rechnen und die ersten geologen haben anhand ihrer forschung bewiesen, an welchem tag und zu welcher stunde gott was erschaffen hatte. das war völlig daneben. und ich glaube, weil besonders geologen immer in diesem clinch zwischen dogma und forschung lebten, sind sie besonders feinfühlig und verantwortungsvoll geworden.

kuhn: ist das denn nicht heute noch so, dass die forschung die schöpfung widerlegt? vielleicht haben die forscher heute eine andere moral oder ethik. vielleicht hat das damit zu tun, dass sich die forschung nicht mehr für alles verantwortlich fühlt. die gebiete haben sich auch immer mehr verengt, mehr spezialisiert. früher hatten die forscher vielleicht den besseren, oder grösseren überblick? vielleicht steht da ein umfassenderer begriff von forschung dahinter?
vielleicht kann der spezialist gar nicht mehr das ganze gebiet überblicken?

fricker: ja, aber zum beispiel der mentor von heim, escher, hatte als maxime «lieber zweifeln statt irren». das führte dazu, dass er zum beispiel kaum etwas veröffentlicht hat, weil er immer wieder alles in frage stellte.
heim hielt 1908 im wildkirchli eine rede, er trat als mönch auf und sagte in seiner rede, die forscher müssten sich davor hüten lehren abzuleiten aus den dingen die sie sehen. er war sich bewusst, dass er so wenig wusste, dass es nicht reicht, um irgendwelche lehre zu ziehen. es reichte nicht einmal gott zu verneinen.

kuhn: ziemlich moralisch, wenn er sich als mönch vor die leute stellt und eine predigt hält ...

fricker: in den neuen zürcher nachrichten hat man ihn scharf kritisiert: man dürfe an einem heiligen ort diesen heiligen ort nicht in frage stellen, und zwar aus pietät den leuten und ihrer tradition gegenüber nicht. es ging nicht um wahrheit oder lüge, sondern mehr darum, wo darf man sie in frage stellen. es ging um den respekt vor religiöser haltung ...

kuhn: du wolltest eigentlich etwas vorlesen ...

 

wald und wiese, welt und wasser, berg und tal, fels und schnee

fricker: es geht hier nicht so sehr um moral und ethik, sondern um ästhetik: «solange wir in geringer höhe über dem erdboden schweben, ist der genuss im sehen viel ergreifender, er nimmt dann ab mit dem höheren stand unseres luftschiffs. aus mässigen höhen umgibt uns die welt in einer unendlichen pracht. im vordergrund aller gefühle steht die staunende bewunderung. niemand kann worte finden dieses selische geniessem im schauen zu schildern. man ahnt auf dem boden nicht, wie schön dieses gewebe von wald und wiese, von welt und wasser, berg und tal, fels und schnee ist. wie duftend, wie freundlich und lieblich die dörfer und städte aussehen, als wäre in ihnen keine sünde möglich. und wie freundschaftlich und traulich die strassen und wege die wohnstätten der menschen miteinander verbinden. es ist wie eine harmonische musik oder wie eine herrliche dichtung, was unter unserem auge vorüberzieht. ja, ich erkenne die dörfer, die täler, die berge, sie sind mir vertraut, aber sie sehen doch so anders aus von hier oben, sie sind wie verklärt, so rein, so farbenduftig. ist alle diese pracht wirklich wahrheit, stehe ich so frei im himmel draussen? ich taste am fahrkorb, an den seilen, ich taste an den gefährten, um zu versuchen, ob ich vielleicht bloss in einem herrlichen traum schlafe, oder ob greifbare wirklichkeit mich umgibt. im schauen gebannt ist es schwer anderes über die lippen zu bringen als nur beständige ausrufe der bewunderung und des entzückens.»
ich habe am fälensee gefischt und eine gruppe junger zürcher ist beim stifel über die krete gekommen, haben die landschaft dort zum ersten mal gesehen, und das einizige was sie rufen konnten, war: geil, geil, geil ... als ich dieses vorwort von heim gelesen habe, habe ich mir gedacht, dass es genau dasselbe ist.
«ich habe gesehen, wie manche in eine art glückrausch, in ein gefühl unaussprechlicher seligkeit verfallen. mache lachen, manche weinen, wieder andere werden stumm. es ist schwer den geist zu wissenschaftlicher beobachtung zu sammeln. fast steht einem vor erstaunen und entzücken der verstand still. das entzücken lähmt die kritische beobachtung. ich glaube, der dichter ist einmal im ballon gefahren, der den adler hoch in den lüften sagen lässt: ach währte doch immer das stolze glück, ach müsste ich doch nimmer zur erde zurück.»

kuhn: es ist ja offensichtlich, dass ihm hier die worte fehlen.

fricker: ja, er unterscheidet ja auch zwischen künstlerischem ausdruck und wissenschaftlicher beobachtung ... ich neige auch dazu mich zu zügeln, wenn ich etwas mache, um zu wissenschaftlicher beobachtung zu kommen. die ästhetik, die in wissenschaftlicher beobachtung liegt, interessiert mich mehr, als die säuselnde ästhetik, die nicht in worte zu fassen ist und von der wir dann sagen, sie sei kunst. so wie heim die luftfarben erforscht hat, wollen wir vielleicht erforschen, was wir für einen apparat an gefühlen, an denkfähigkeit und so weiter haben, wie wir zum entzücken kommen ... kuhn: ich finde es ziemlich schwierig hier über ästhektik zu reden. heim merkt ja einfach, dass er etwas unbeschreibbar schönes sieht und dass ihm die worte fehlen. es ist doch unglaublich schwierig, das jetzt zu beschreiben ohne pathetisch oder kitschig zu werden. wir merken beim lesen einfach, dass er von sinnen war ... aber die sprache, die er braucht ...
interessant ist doch, dass er schreibt, es falle ihm bei all der schönheit der natur schwer den geist zu sammeln, um eine objektive wissenschaftliche betrachtung machen zu können ...

fricker: ja, denn aufgestiegen ist er ja eigentlich aus wissenschaftlichen gründen.

kuhn: genau. interessant ist, dass die natur ihm die sinne raubt ... und er das gefühl hat, er sei nicht mehr fähig eine Betrachtung zu machen.

fricker: um das einmal zusammenzufassen: dann gehen die leute nicht zuletzt deshalb in die berge, weil sie ihrer sinn beraubt werden wollen ...

kuhn: ich denke schon. deshalb geht man in die natur.

fricker: ... und meine aufgabe als künstler ist es jetzt, das nicht zuzulassen. bei autoren wie trenker endet dieses gefühl am schluss immer beim vaterland, vielleicht noch bei gott, aber meistens beim vaterland und bei der idee, dass dieses gefühl des der-sinne-beraubt-seins immer in dankbarkeit übergehen müsse und deshalb bekommt das sofort eine soziale komponente.

kuhn: du kannst ja sicher nicht behaupten, du würdest das alles nicht suchen. der unterschied ist aber der, dass du dich nicht mit dem staunen und dem entzücken zufrieden gibst. du versucht das nachher umzusetzen und mit deinen mitteln zu erforschen.

fricker: ... das führt automatisch zu der erforschung der künstlerischen wahrnehmung. dort, wo wir der sinne beraut werden, dort beginnt die arbeit ... ich mag das nicht, wenn ich meiner sinne beraubt bin.

kuhn: was? das magst du nicht?

fricker: nein, überhaupt nicht! entzücken steht mir nicht. aber ich möchte diesen zustand untersuchen. es kommt mir so vor, wie wenn der raum den der tourist im alpstein besucht, dieser freizeitraum, eine art laborsituation darstellen würde. er ist im bezug auf wahrnehmung und verhalten ein bisschen weniger komplex als der stadtraum. ich meine, es ist deshalb ein bisschen einfacher forschung zu betreiben, als wenn man in der stadt forscht.

kuhn: labor meinst du im bezug auf beobachtung?

fricker: ich meine es im sinn von «kunst als selbstversuch». ich beziehe es auf die funktion des alpsteinmuseums. ich mache das nicht zuletzt deshalb, um mir ein labor zu schaffen. in diesem labor kann ich dann auch die forschungsresultate ausstellen und die leute können alles anschauen und darüber diskutieren.

 

das alpsteinmuseum - informationen vor ort

kuhn: kannst du hier eine kleine einschaltung machen: was ist das alpsteinmuseum genau und wie ist der stand der entwicklung?

fricker: man kann unterscheiden zwischen dem alpsteinmuseum als institution und den absichten des alpsteinmuseums.
auf den ersten aspekt bin ich eigentliche erst nachträglich gestossen. meine absicht war nicht, ein alpines museum zu gründen. das hat sich erst später entwickelt. das museum soll tatsächlich informationen vermitteln, informationen, die vor ort gesammelt wurden und die ich dort an die leute bringe, wo die leute diese informationen unmittelbar umsetzen können. das steht im gegensatz zu den alpinen museen, die vor 100 jahren in den städten gebaut wurden. die wissensvermittlung hat damals in den städten stattgefunden. man hat zwar auf dem gletscher geforscht, aber vermittelt hat man die informationen in der stadt. heute ist es selbstverständlich, dass man sich diese forschungsresultate übers internet überall einsehen kann, auch auf dem gletscher. ich nehme an, heute arbeiten forscher auf diese weise. das gehört zum alpsteinmuseum: die vermittlung vor ort.
das museum erstreckt sich auf die bergwirtschaften im alpstein. mir ist aufgefallen, als ich in diese wirtschaften gekommen bin, dass es dort viele bergbilder von künstlern gibt und dass auf den bildern immer der ort abgebildet ist, an dem das bild hängt. wenn man also in die bollewees kommt, dann hängen dort zwei fantastische schwarz-weiss-fotografien der bollewees. ich habe dann begonnen, das zu ersetzen. zum beispiel in diesem ersten projekt, das jetzt läuft - es geht um karten und pläne - ersetze ich diese fotografien durch zwei studien, in denen es um die beschaffenheit des bodens in der bollewees geht. ich mache also wieder dasselbe, ich bilde auch wieder den ort ab ... aber mit forschungsergebnissen über den ort. in den anfängen dieser institution alpsteinmuseum, die ein alpines museum werden soll, also ein museum das informationen zum alpinen raum vermittelt, soll der alpstein untersucht werden, mit allen mitteln die mir zur verfügung stehen.
das andere ist nun meine absicht. ich wollte ein projekt in realen raum machen und nicht im virtuellen raum. ich will mit der zeit eine situation schaffen, die es mir ermöglicht darüber nachzudenken, wie man eigentlich diesen realen raum wahrnimmt. auch im zusammenhang damit, dass wir soviel virtuell wahrnehmen. ich meine, dass die voraussetzungen dafür optimal sind in einem raum, den wir vor allem in unserer freizeit wahrnehmen. denn hier ist diese ganze komplexität weg ...

kuhn: und auch die zwänge sind ein bisschen gelockert. du schiebst also das konzept eines realen alpsteinmuseums einer künstlerischen absicht vor? oder ergänzen sich das museum und die künstlerische absicht in der art, wie das museum sich manifestiert?

fricker: ich habe germerkt, dass ich, um überhaupt ausstellungen machen zu können, die ganze wissenschaft studieren muss. ich muss über geologie lesen, muss mich mit geomorphologie vertraut machen, ich muss mich mit höhlen beschäftigen ... ich darf den alpstein nicht nur mit ästhetischem blick anschauen, sondern ich muss mir bewusst sein, dass ich, wenn ich zum beispiel eine frisch gejauchte wiese fotografiere - die mich an jackson pollock erinnerte - vielleicht diesen bauern denunziere, weil er wider die vorschriften jauche verschlaucht hat. ich muss mich also auf ganz andere ebenen begeben als wenn ich - wie heim es beschrieben hat - im entzücken erstarre. so muss diese forschung weitergehen: ich muss ein inventar aufnehme, wie ich etwas wahrnehme, wie ich etwas verarbeite, welche schlüsse ich ziehe.

kuhn: was ich meinte war: du interessierst dich ja wirklich für den alpstein. du hast hier nicht einfach ein thema gefunden, das du in deine kunst importieren kannst, um damit arbeiten zu realisieren. in deinem fall ist es eher so, dass du dich zuerst und vor allem für den alpstein interessierst und dann zu formulieren beginnst, wie du dich als künstler jetzt verhalten und bewegen kannst.

fricker: ich habe auch vom selbstversuch gesprochen. ich finde es sehr wichtig, dass man sich hier voll und ganz reingibt. das ist wirklich ganz fantastisch, zum beispiel einem forscherleben wie dem von albert heim nachzugehen und das zu untersuchen. es ist interessant, weil ich rückschlüsse auf mich selber ziehen kann und weil ich sehen kann, was mit mir selber passiert, wenn ich mich in diese welt hinein begebe. ich spreche am einen tag mit einem bergwirt, sitze am nächsten mit einem geologen am tisch und dann wieder mit einem kletterroutenbauer, der seinen routen diese poetischen namen gibt ... das alles ist sehr interessant ... dann muss ich mit dem appenzell innerhodischen betriebsberater sprechen und tippe nachher gesetzestexte ab ... es ist die faszination sich in diese welt hineinbegeben zu können ...

 

kunst als selbstversuch, kunst als forschung

kuhn: vielleicht müsste man versuchen diesen begriff von forschung zu definieren. indem du als künstler an die arbeit gehst und dich mit all diesen themen beschäftigst - mit geologie, geomorphologie, tourismus, tierschutz, landschaftsschutz und so weiter - könnte es doch sein, dass du einen vernetzteren oder ganzheitlicheren ansatz gewinnst und damit einen umfassenderen forschungsbegriff ableiten könntest. einen begriff entgegen diesem hochspezialistentum ...

fricker: ich bin tatsächlich kein wissenschaftler. ich weiss das. klar kann man sich methoden erarbeiten, aber ich spüre das, dass ich kein wissenschaftler bin ... ich bin eher der maurer, der die universität baut, als der universitätsprofessor, der die mauern erklärt und sagt, was in diesen mauern drin geschieht. ich kann eher strukturen bauen, in denen sich nachher etwas ereignen kann, als dass ich diese strukturen erforsche. in diesem sinn bin ich kein forscher. ich mache ein gefäss, das gewissermassen die strukturen bereitstellt um zum forschen und um die forschung mitzuteilen. aber ich selber würde mich nicht als forscher bezeichnen.

kuhn: ich glaube wir reden hier von zwei begriffen ... natürlich bist du kein akademischer forscher. aber vielleicht ist an diesem neuen begriff von forschung genau das interessant, dass diese forschung nicht akademisch ist. du forscht assoziativer, von der art und weise her, wie du an deinen gegenstand herantrittst, du forschst vernetzter, und von der ganzen anlage her weitläufiger, du forschst nicht isoliert, indem du viele verschiedene leute in deine forschung einbindest, laien und fachleute ... so entsteht ein erweiterter begriff von forschung.
überhaupt wäre dieses assoziative vorgehen meiner meinung nach auch der richtige weg über jeden gegenstand informationen in erfahrung zu bringen, ganz im gegensatz zu der methode, die zielgerichtet linear auf den gegenstand zugeht. sich ablenken lassen ... assoziativ vorgehen ... mäandrieren und so auf den gegenstand zugehen, ihn vielleicht sogar umgehen ... so bringt man viel mehr über den gegenstand in erfahrung.

fricker: trotzdem würde es mich interessieren lückelos zu sammeln, dieses mäandrieren und immer wieder ausflippen ... ich möchte auch mal etwas richtig verstehen. natürlich hat sich die kunst diese methode aus dem linearen auszubrechen erarbeitet. ich spüre, dass ich momentan gerne ein bisschen zurückgehen möchte, um alle bausteine auch zu verstehen ... sonst flippe ich plötzlich wieder ab und denke über soziale themen, oder ästhetische nach ...

kuhn: die wesentliche formulierung ist die, dass du bausteine verstehen möchtest. du kannst dir einen baustein nach dem andern aneignen und an deinem gebäude weiterbauen ... das habe ich mit künstlerischer forschung gemeint habe. wenn ich das alpsteinmuseum anschaue, habe ich das gefühl, dieser begriff einer forschung, wie ich ihn geschildert habe, ist möglich.

fricker: ich musste jetzt wirkich mit sehr vielen leute reden. das spannende war unter anderem zu hören, wie diese leute untereinander reden. die haben ganz eigene geschichten, die sie sich erzählen, geschichten, die wir nirgends hören, sehr witzige zum teil. normalerweise kommen die leute nicht an diese informationen heran ... jetzt mache ich folgendes, statt dass ich diese gespräch, wo ich zwei drei leute zusammenführe, um mir die schönen geschichten anzuhören, allein mache, mache ich diese gespräche öffentlich. diese gespräche heissen jetzt «alpstein tisch». ich mache diese tischgespräche an verschiedenen orten mit verschiedenen kontexten. wenn ich zum beispiel auf der stauberen ein gespräch mache, ergeben sich bestimmte themen wie vergletscherung, bergstürze, es ergibt sich eine andere sicht, als zum beispiel in der meglisalp, wo man sowieso nur an erotik denkt, weil dort vor 100 jahren die wanderer nackt herumgelaufen sind. die meglisalp hat eine ganz andere ausstrahlung und teilweise eine ganz andere thematik als zum beispiel die bollewees, wo die berühmten kletterer waren. jetzt habe ich hier ein instrument: ich kann an verschiedenen orten leute zu gesprächen einladen, um mit ihnen über bestimmte themen zu reden. dann habe ich postkarten, wie es sie im alpstein noch nicht gibt. da ist nur ein schneeflecklein drauf oder ein kreuz oder ein höhleneingang oder ein jauchefeld ... ich fokussiere dinge. ich suche hier die realität hinter der ästhetik, die kunst hat immer versucht die ästhetik hinter der realität zu finden. mich interessiert das gegenteil.
dann habe ich diese souvenirs gemacht, diese email-schildchen mit dem kletterroutennamen: geile götter, kein wasser, kein mond, busenwunder und so weiter. damit möchte ich den literarischen aspekt des kletterrouten-benennens bekanntmachen. die schildchen sehen aus wie eine arbeit von mir, aber es sind bestehende namen. eigentlich ist der kletterführer ein literarisches werk.

 

freizeit, tourismus, wissenschaft, kulturpolitik ...

kuhn: ... dein ist mein ganzes herz ... irrwäg ... moorphium ... i'm a loser baby, so why don't you kill me ... grössenwahn ... liebestöter ...

fricker: die ironie spielt eine sehr grosse rolle bei diesen benennungen. mich interessiert es, diese namen im kunstkontext zu gebrauchen. werner küng, der diesen kletterführer gemacht und die namen gesammelt hat, sagt, wenn er mir die wand zeigt, die busenwunder heisst, dann sei mir sofort völlig klar weshalb das so sei. wenn ich den begriff aber im kunstkontext brauche, stehe ich als völliger macho da.

kuhn: sind denn diese souvenirs die möglichkeit für dich in diesem projekt doch noch ein künstlerisches produkt zu machen?

fricker: ich will nicht so tun, als ob ich souvenirs machte. ich will nur souvenirs machen.

kuhn: nochmals zurück: wenn mich jemand fragt, was denn eigentlich das alpsteinmuseum sei, dann halte ich immer denselben kurzen vortrag. der geht so: die strategien von fricker, die er sich im laufe der jahre erarbeitet hat, kulminieren in diesem projekt. die möglichkeiten der mail-art, die vernetzungen und kurzschliessungen, die nutzung von synergien, die möglichkeiten des öffentlichen raums und wie man sich im öffentlich raum bewegt, die interessen bezüglich wahrnehmung, die mit den orte-arbeiten dazukommen, das alles ist in diesem alpsteinmuseum drin ... kannst du damit etwas anfangen, dass diese strategien jetzt plötzlich zusammenlaufen und in diesem projekt im alpstein anwendbar werden?

fricker: ja, das stimmt absolut, das spüre ich. und es freut mich. ich habe mehr übersicht jetzt. ich muss sagen, ich habe mich selten so wohl gefühlt wie jetzt. ich kann themen hineinbringen, die mich interessieren, die bis ins politische gehen. ich habe viele freiheiten ...

kuhn: wenn du dich als institution verstehst, hast du auch mit kulturpolitischen themen zu tun?

fricker: ja, absolut! es ist auch eine gewisse verantwortung da. der kanton appenzell zum beispiel wird sich überlegen müssen, ob er nicht besser einen teil der gelder, die an institutionen gehen, ins alpsteinmuseum hineinsteckt, weil diese institution zum publikum und das publikum ja bekanntlich nicht ins museum geht. er muss sich überlegen, einen teil der gelder hier einzusetzen, vor allem, wenn es so etwas wie einen kulturvermittlungsauftrag gibt. denn in diesen bergwirtschaften wird kultur unter umständen an viel mehr leute vermittelt, als in den traditionellen institutionen.
ich habe gesagt, dass es um die erarbeitung von strukturen geht. interessanterweise ist es bis jetzt so, dass es am besten läuft, wenn ich alles allein durchziehe und wenn das museum auch stark mit meinem namen verknüpft ist. ich musste zum beispiel ganz klar sagen, dass das alpsteinmuseum nicht die institution der bergwirte ist, die sie zu ihrem zweck nützen können. das alpsteinmuseum ist ein künstlerisches projekt. ich habe das projekt auch beschränkt auf fünf jahre, möchte es aber soweit bringen, dass das museum als institution tatsächlich auch funktionieren könnte.

kuhn: du leistest jetzt also fünf jahre aufbauarbeit?

fricker: ja, ich muss. und die muss ich allein leisten, weil zu viele interessen vorhanden sind.
die kulturbeauftragte des schweizerischen alpenclubs - der schweizerische alpenclub ist der träger des alpinen museums in bern - lädt mich jetzt ein, allen 125 kulturbeauftragten ihrer sektion das alpsteinmuseum vorzustellen, weil sie denke, das sei eine zukunftsträchtige institution. da wird es mir dann manchmal ein bisschen komisch zumute ... es wird plötzlich verdammt ernst.

kuhn: wenn du sagst, du machst das fünf jahre, dann kann es ja sein, dass du in den fünf jahren etwas aufbaust, das nachher so weit funktioniert, dass du als gründer und erster kurator des alpstein museums zurücktreten kannst. man muss dann einen nachfolger suchen. ich weiss nicht, ob das realistisch ist, dass du das projekt aus der hand gibst, oder ob es so eng mit deinem namen verknüpft bleiben muss, dass das nicht geht ... vielleicht schaffst du es, so tragfähige strukturen zu schaffen, dass ein nachfolger später alles übernehmen kann. der muss dann vielleicht nicht einmal künstler sein, er muss nur den geist und die ganze strategie - wie zum beispiel in diesem raum alpstein agiert wird - weiterführen. ist das denkbar?

fricker: ja, ich glaube schon. das projekt hat sich entwickelt, ich wusste nicht von anfang an genau, was ich tat. ich habe gesagt, ich will strukturen schaffen, in denen man über realität nachdenken kann, in zeiten in denen man die welt zu 99% virtuell wahrnimmt.
ich möchte nur gewisse dinge nicht aus den augen verlieren. diese gefahr ist sehr gross, dass das projekt dann plötzlich nicht mehr ein forschungslabor über die alltagswahrnehmung wird, sondern ein geologisches projekt oder irgend etwas anderes.

kuhn: zu einem zeitpunkt, wo deine strukturen tragfähig geworden sind und du von deinem posten zurücktrittst, müsste es eigentlich möglich sein, dass ein nachfolger einen andern blickwinkel hat und die schwerpunkte anders legt. du sagst also, dass es für dich denkbar ist, dass dieses projekt über deine eigene künstlerische absicht hinhaus später weitergeführt werden kann?

 

«suchet und forschet»

fricker: ja! ich muss deshalb aber auch noch am museumsbegriff arbeiten. ich muss den begriff hinterfragen, ich muss fragen, was bedeutet museum und was hat das museum für eine funktion. es geht hier um einen sehr offenen museumsbegriff, und wenn dieser begriff weitergeführt werden könnte, dann würde es funtkionieren.
ich muss mich dann auch einmal mit museumspädagogen unterhalten. ich nehme an, die haben zum teil ähnliche absichten: die wahrnehmung strukturieren, schauen wie man reagiert und warum man wie reagiert ... bei mir ist es ganz ähnlich.
in den bergen sieht man zum beispiel gewisse strukturen, die es eigentlich gar nicht gibt, weil der mensch sie längst verändert hat. die ebenalp zum beispiel war vor über 1000 jahren bewaldet, der mensch hat alles entwaldet und hat es soweit gebracht, dass auch nie wieder wald entstehen kann, weil durch die art der nutzung die ganze humusschicht abgetragen worden ist. man nimmt dort nicht wildnis wahr, sondern kulturraum. das muss man auch vermitteln: was nimmt man wahr und wie ist es tatsächlich.
ein aspekt daran gefällt mir ausgezeichnet: in den alpinen museen baut man berge auf aus papier-maché und redet dann von erlebniswelten, die man im museum geniessen könne. ich habe diese erlebniswelt tatsächlich. aber ich muss den leuten in meinen erlebniswelten beibringen, dass es sich auch um eine kulisse handelt. wir haben die natur stark verändert ...

kuhn: ... immerhin sind sie aber an der frischen luft. wie gehst du eigentlich damit um, dass die leute, die bestandteil sind von deinem projekt, die leute die den alpstein nutzen, von dir als künstler nichts wissen, und das projekt gewissermassen als angebot im kontext freizeit, sport, tourimus ansiedeln? ist das eine schwierigkeit oder ergeben sich daraus möglichkeiten für das projekt?

fricker: das ist viel besser für das projekt. der wanderer der ruft: geil, geil, geil! der hat ja ein ästhetisches erlebnis. ich möchte gerne die kunst auf eine verstandesebene heben und die leute auf eine ebene bringen, wo sie sich fragen können, wie gewisse prozesse funktionieren. dort möchte ich die leute abholen. wo die kunst in entzücken ausbrechen lässt, ist sie eher entmündigend. mir ist der mündige mensch viel lieber und das erreiche ich eher durch informationsvermittlung.

kuhn: danke für dieses schlussstatement: der mündige mensch ist mir viel lieber!

fricker: nein, ich meine, heute, wo so vieles illusion ist, muss man ungeheuer aufpassen. wir meinen ja, wir kennen die ganze welt ... 1980 habe ich diesen satz geschrieben «phänomene die durch glas gesehen werden sind immer verdächtig». mit dem glas waren auch fotoapparate und screens und so weiter gemeint. heute ist das alles noch viel verrückter geworden. in diesem sinn ist im bezug auf meine arbeit im alpstein auch der satz «lieber zweifeln als irren» immer noch ein gutes statement. oder wie heim sagte: «suchet und forschet.»

 

 

 

 


das gespräch fand statt im rahmen des projektes «file sharing» matthias kuhn/wortwerk.ch im märz/april 2003 im projektraum exex st.gallen.
copyright (c) 2003 bei h.r. fricker und matthias kuhn/wortwerk.ch
text-URL http://www.wortwerk.ch/file_sharing/textarchiv/fricker_gespraech.html