«wenn ein vogel vorbeifliegt, kann das ein akustisch
einschneidendes ereignis sein.»

matthias kuhn im gespräch mit ines kargel und fabian neuhaus.
dienstag, 15. april 2003, projektraum exex st.gallen.

wo man nicht hineinblasen soll

kuhn: ihr werdet am 5. juni in st.gallen auf dem gallusplatz euer projekt «mono 1/03» aufführen. wir werden später auf dieses projekt eingehen. um euer vorgehen als musiker/innen verstehen zu können: was ist eure herkunft, was sind eure ausbildungen, was habt ihr bis heute für projekte gemacht?

neuhaus: ich habe mich immer interessiert für die funktionsweise von musik. ich habe zuerst querflöte gelernt, aber schnell schon durch alle enden und löcher hineingeblasen, vor allem dort, wo man nicht hineinblasen soll. dann habe ich nach einer bastelanleitung einen e-bass gebaut. ich habe in rock- und punk-bands gespielt und habe schliesslich, um nach der matur geld zu verdienen, elektrische und akustische gitarren gebaut. ich wollte das zu meinem beruf machen, bin aber schnell wieder davon abgekommen, weil ich beim schleifen zu viel zeit zum nachdenken hatte. und ausserdem ist man mit arbeiten nie gleich schnell wie mit denken.
das war der auslöser einen andern weg zu gehen: ich habe musikwissenschaften und komposition studiert, habe sehr viel mit elektronik gearbeitet. das heisst zum e-bass kamen sehr viele kleine geräte dazu. mit der zeit kamen die geräte auf den tisch und der e-bass in die ecke. meine musik wurde sehr schnell experiementeller. ich habe experimente mit mikrofonischen übertragungen und unterschiedlichen mischungen gemacht.
gleichzeitig habe ich auch sehr viele konzerte gemischt, fand das eigentlich auch sehr interessant, aber eben auch ziemlich eingeschränkt. dann habe ich musik zu schreiben begonnen, für soloinstrumente, für ensembles und orchester. die aufführungsformen waren allerdings ebenfalls sehr eingeschränkt, das heisst sehr stark vordefiniert ... nur schon die klar definierten anlässe - konzertbeginn um 20 uhr, 4 stücke, dauer anderhalb stunden und so weiter. diese umstände haben schliesslich dazu geführt, die eigenen ideen so umzusetzen, wie sie auch im kopf waren, was natürlich nicht immer ganz einfach ist ...

kargel: ja, von meiner seite her sieht das so aus: ich bin mit einer relativ klassischen ausbildung gross geworden, allerdings mit vielen einflüssen aus dem jazz und aus der neuen musik und auch aus der bildenden kunst. ich habe mich entschlossen erst mal schauspiel zu studieren, war auch immer ein ziemlicher theaterfreak. meine studiensammlung wurde dann bis zum schluss: schauspiel, jazzsaxofon, komposition und elektroakustik. ich habe während meiner studienzeit in allen bereichen auch gearbeitet. meine mitmusiker und -schauspieler wurden immer ziemlich schnell wahnsinnig mit mir, weil ich die spartenimmanenten spielregeln nicht einhalten wollte. nicht, dass mir die spielregeln nicht gepasst hätten, aber mir fiel halt immer sehr viel ein, was quer zu den regeln lief.
freie parameter haben mich immer sehr interessiert, das vor allem im bezug auf räume, darauf wie man räume wahrnimmt und begreift, visuell, akustisch und körperlich. dann haben mich räume interessiert, zu denen man stellung nehmen kann. räume interessieren mich auch in bezug auf arbeitssituationen und inhalte.
ich arbeite sehr gerne konzeptbezogen, ich interessiere mich für die situation für die eine arbeit entsteht, für den vorgegebenen oder selbst gesuchten inhalt. dann interessiert mich auch grösstmögliche individualität in der wahrnehmung des rezipienten. das heisst situationen wie guckkastenbühnen, oder fixe ablaufzeiten, fixe sitzplätze des publikums werden ziemlich schnell zu eingegrenzt.
meine arbeitsbereiche führten vom theater bis hin zur instrumentalmusik, szenisch aufgelöst. auch hier war mir das szenische, das inszenierte, das dramatische im bezug auf den raum sehr wichtig. dann kamen klangtheaterproduktionen. die wahl der mittel entsprang dabei immer sehr dem kontext in dem ich gearbeitet habe. es war mir gar nicht so wichtig, ob das jetzt eine rein musikalische arbeit ist oder im installativen bereich mehr visuell ist. wichtig war mir die umsetzung meines konzeptes und mit dem konzept die inhalte zu treffen, die mir wichtig waren. bei diesen projekten ging es von einer mischung aus instrumenten mit sprechern und schauspielern bis hin zu elektronik und auch tape-music. auch hier interessierte mich die auflösung und die mischung von formen. es entstanden so raumbezogene stücke zum beispiel mit einem trompeter, klang- und videoprojektion.
meine arbeitsweise ist also relativ vielfältig. klanginstallationen sind ein wichtiger bestandteil, vor allem im bezug auf eine starke auseinandersetzung mit industriellen räumen. linz bietet in diesem umfeld sehr gute möglichkeiten. diesen industrie-background konnte ich nie ganz verleugnen.

 

ein offenes publikum

kuhn: ihr habt jetzt beide vor allem diesen ortsspezifischen aspekt für eure arbeiten betont. in der kunst kenne ich das gut, dass für spezifische räume, auch öffentliche, arbeiten realisiert werden. in der musik kenne ich mich überhaupt nicht aus. gibt es da auch geschichtliche beispiele dafür? oder könnt ihr beispiele nennen für ortspezifische musikalische arbeiten?

neuhaus: ortsspezifik kann ganz unterschiedliche hintergründe haben. im industriellen rahmen können das bezüge sein zu den inhalten der industrie. als beispiel könnte die aufnahme von meiner metalmusic gelten. ines hat übrigens im selben jahr ebenfalls eine cd herausgegeben zu metallklängen. metalmusic liefert einen sehr direkten bezug zur metallindustrie. es ging dabei um material, um industrielle arbeit und um industrielles ambiente und so weiter.
dann geht es in solchen projekten, wie ines schon gesagt hat, um die individuelle wahrnehmung, auch um die wahrnehmungsposition der rezipienten. es gibt beispielsweise die möglichkeit die instrumentalisten zu verteilen und ein kompositorisches prinzip zu verfolgen, welches zum beispiel jeden einzelnen punkt als ein ganzes darstellt, obwohl jeder punkt anders ist, das heisst, die komposition ist immer vollständig, aber immer nur für eine person, die die komposition an einem bestimmten ort hört. das bedingt natürlich eine andere organisation des konzertes ...

kargel: ... wobei man sagen muss, dass das kein kunstgriff ist, sondern bei uns aus der beobachtung heraus kommt, dass es erstens die angenommene idealsituation - ich sag jetzt mal symphoniekonzert in einem konzertsaal - nicht gibt, oder nur für ganz wenige rezipienten in ganz wenigen augenblicken und dass es zweitens eine allgemeingültige wahrnehmung von akustischem und visuellem nicht gibt. john cage sagte einmal: stell dich auf die strasse und hör deine eigene symphonie, hör was los ist. es gibt wahnsinnig viel zu hören.
es gibt räume, die sind weitaus interessanter als konzertsäle. konzertsäle sollen per se neutral sein. wenn ich aber einen raum will, der mir etwas erzählt, dann muss ich in einen raum gehen, der geschichte hat, in dem etwas passiert, denn dazu kann ich stellung beziehen.
in diesem zusammenhang ist die elektronik für mich ein sehr brauchbares mittel, um an den raum heranzukommen. ich arbeite dann nicht mit der “künstlichkeit³ eines instrumentes, sondern versuche mit der elektronik an die klänge heranzukommen, die vorhanden sind. allerdings geht es dabei nicht nur um konkrete klänge, um naturaufnahmen, sondern auch um abstrakte synthetische klänge.
zu dieser idealsituation gehört auch die annahme, dass jeder rezipient die konzertsituation gleich wahrnimmt. das ist einfach nicht der fall. das muss man ernstnehmen und so vielfältige situationen schaffen, dass jeder anders wahrnehmen kann - da kommt dann auch die interaktion ins spiel - und aufgerufen ist und die freiheit hat, seinen standpunkt und wahrnehmungspunkt selber zu suchen und ihn zu verändern und mit ihm zu hantieren ...

neuhaus: ... das ist für uns eine möglichkeit assoziationen zu bewirken. wenn ich kontakt aufnehme mit einem raum, zum beispiel über die metallklänge im industrieumfeld, dann denkt sich jeder etwas dabei. diese klänge kann man beliebig abstrahieren und vervielfältigen. es geht darum, möglichst viel bezüge zu schaffen ...

kuhn: rechnet ihr mit einem vorbereiteten und eingestimmten publikum?

kargel: ... wir rechnen einfach mit einem offenen publikum. kuhn: ich meine folgendes: agiert ihr an orten, an denen ihr auf ein publikum trefft, das keine ahnung hat von eurer arbeit und erstaunt stehen bleibt um zu hören was da passiert? habt ihr damit erfahrungen?

neuhaus: da sind wir jetzt eigentlich bei «mono 1/03» ...

 

musik körperlich spüren

kuhn: gut, dann steigen wir anders ein. worum gehts bei «mono»?

neuhaus: mono ist ein punkt. man denkt vielleicht an monolith: alles findet an einem punkt statt. dieser punkt hat sich gebildet aus den pragmatischen erfahrungen, die wir gemacht haben, wenn wir miteinander gespielt haben, historische musik auf elektronischen instrumenten, alles mögliche, mit computern, mischpulten und mit geräten mit denen man klänge verändern kann.
wir haben gespielt und geschaut was passiert. wir haben aufnahmen gemacht und festgestellt, dass man auf den aufnahmen nicht mehr merkt, wer was gespielt hat: es hörte sich an wie eins. und trotzdem hat man gefühlt, einer allein schafft das nicht. daraus folgte die idee, alle unsere einflüsse und unseren künstlerischen hintergrund in einem punkt zu konzentrieren. dafür steht mono.
es fragte sich dann, wo dieser ort sei. es gibt immer einen richtigen ort und einen moment wo etwas stattfindet. wir haben uns gesagt, wir suchen uns schnittpunkte, das heisst, wir bilden ein netzwerk von knotenpunkten. es gibt nun zwischen unseren herkunftsorten, schaffhausen und linz, ein netz von 23 orten, die uns interessieren.

kargel: klanglich gibt es zu mono einen interessanten ausgangspunkt. es ist eine tatsache, dass wir an räumen interessiert sind, auf die räume eingehen wollen und in diesen räumen spielen wollen. wenn man an einem ort nun lautsprecher aufstellt, erzeugt man einen kunstraum. dieser raum macht den natürlichen raum unhörbar.
wir wollten nun mit den knotenpunkten spielen. dazu haben wir das mono-objekt konstruiert, das nun buchstäblich im zentrum dieser orte stehen wird und über die klangausweitung und die reflexionen mit diesem ort und diesem raum spielen wird. der ort antwortet immer und es wird immer anders klingen und ausserdem werden wir an jedem ort anders spielen. das basismaterial mit dem wir spielen werden ist überall das gleiche, aber was wir zurückbekommen vom ort ist jedesmal verschieden. unsere klangbearbeitung und spielweise wird also auf den raum und seine atmosphäre und auf die leute, die zufällig an diesen ort kommen, eingehen.

neuhaus: ich möchte noch rasch die klanglichen anforderungen verdeutlichen. wenn eine geige in einer kathedrale spielt, dann hören alle, die sich in dieser kathedrale befinden, dass es eine geige ist, die in einer kathedrale spielt. das tönt banal, aber man hört die kathedrale mit. man hört die klangfarben, die ausrichtung der geige, die platzierung des instruments. das sind alles möglichkeiten, den raum auszunutzen.
zu hause hört man zum beispiel in stereo einen gregorianischen choral an, der in einer romanischen kirche aufgenommen wurde. man hat nun dort die illusion sich in einem solchen raum zu befinden.
die notwendigkeit ist, dass der klang von einem punkt ausgeht, dass es eine klangfarbliche variabilität gibt. hier nun setzt unser mono-objekt an. wir spielen mit glas- und metallplatten, die wir mit schwingspulen in schwingung versetzen. bei einem normalen lautsprecher wird eine papiermembran mit einer kupferspule mit einem magnetkern in schwingung versetzt, die wiederum die luft in schwingung versetzt.
was wir machen ist folgendes: wir versetzen unsere glas- und metallplatten ebenfalls mit einem magneten in schwingung. wir senden elektronisch gespielte klänge an diese kupferspulen, die diese übereinandergestapelten platten in schwingung versetzen. die platten sind 80 mal 80 zentimeter gross ...

kargel: ... das ergibt einen zwei-meter-turm in dem diese platten drinliegen. für die beschäftigung mit den platten gibt es ebenfalls verschiedene gründe. einer davon ist wiederum dieser industriekontext. wir arbeiten wahnsinnig gerne mit materialien, die aus dem täglichen leben kommen, die auch visuell etwas hergeben. diese platten altern zum beispiel, beginnen zu rosten, es sind unheimlich schöne objekte ...

kuhn: klingen die platten anders, wenn sie zu rosten beginnen?

kargel: na gut, der rost hat nicht so viel einfluss. aber sie verbiegen sich auch und leben mit. und es kommt auch darauf an, welches metall wir verwenden, welche dicke und grösse und welche masse.
ein weiterer grund, weshalb wir darauf gekommen sind solche lautsprecher zu bauen, war der, dass wir folgendes problem haben: wenn wir elektronisch spielen und den lautstärkeregler hochschieben, dann hat die papiermembran des lautsprechers keine masse. das heisst, wir spüren keinen widerstand.
ich kann es auch so angehen: ich war saxofonistin. um saxofon zu spielen brauche ich kraft. die körperliche kraft, dieser schub war mir sehr wichtig. in der elektronik stand ich oft vor dem problem, dass es zu leicht ging. ich konnte die klänge sehr leicht erzeugen. mir haben der schub, die masse und der widerstand gefehlt.
und in dem moment, wo man die masse dieser metallplatten hat - und das sind schnell mal 40 bis 60 kilogramm - bekommen auch die regler eines mischpultes oder eines controllers plötzlich masse. die kraft, der widerstand war somit plötzlich wieder da. und bei mir beeinflusst das die spielweise immens.
und es beeinflusst auch den rezipienten. wenn metall zu schwingen beginnt, dann muss das gar nicht wahnsinnig laut sein, und trotzdem beginnt man es körperlich zu spüren.

neuhaus: in der elektronischen popmusik, im techno, wird das mit tiefbasslautsprechern kompensiert, die sehr laut sind. so laut zum teil, dass sie das gehör schädigen. dort nimmt man dann auch körperlich etwas wahr.
wenn diese metallplatten hängen, dann schlagen sie auch gern drei, vier zentimeter aus. auch auf diese weise bekommt die musik eine körperlichkeit, im gegensatz zu lautsprechern, wo der klang im nichts verschwindet.

kuhn: und diese metallplatten kombiniert ihr für mono mit glasplatten? wie muss man sich die klanglichen möglichkeiten vorstellen?

neuhaus: bei glasplatten ist es so, dass nicht geschulte ohren den unterschied kaum erkennen, ob nun über einen lautsprecher, oder über eine glasplatte gespielt wird.

kargel: der wichtigste unterschied zum lautsprecher, abgesehen vom visuellen natürlich, ist der, dass die abstrahlung von den platten so diffus ist, dass man sie nicht orten kann wie einen lautsprecher. mit eizelnen lautsprechern erzeuge ich einen ganz andern raum, als über die glasplatten.
wir experimentieren beide schon lange mit solchen möglichkeiten. ich habe auch einmal plexiglaslautsprecher gebaut, genau aus dem grund, weil mir diese ortbarkeit, dieses punktuelle eines lautsprechers im zusammenhang mit räumen ziemlich auf die nerven ging.
wir haben auch schon mit hängenden metallplatten und im raum verteilt liegenden glasplatten gespielt. die glasplatten begannen, wenn wir heftiger wurden, zu springen und die leute erschraken, weil sie die klänge zwar hörten, aber sie nicht mit den platten in verbindung brachten, die eben eine diffuse abstrahlcharakteristik haben.

neuhaus: beim mono-objekt ist es so, dass die elf verwendeten platten alle eine verschiedene charakteristik haben. vor allem beim metall hört man das sehr gut. wir steuern jetzt also die klänge durch diese platten hindurch, die klänge bewegen sich und wir erhalten dadurch unterschiedliche möglichkeiten im raum klang zu erzeugen und den klang zusätzlich zu formen.

kargel: weil die klänge live erzeugt und bearbeitet werden, muss der lautsprecher nicht linear funktionieren, weil es nicht um die vergleichbarkeit geht. wir können mit der klangfarbe immer reagieren und ein klangergebnis unabhängig von der linearität der lautsprecher erzielen ...

kuhn: ihr seid ja wahrscheinlich auch an unreinheiten interessiert ...

neuhaus: ja, uns interessieren wirklich auch die eigenschaften der einzelnen platten und die geschichte die sie haben. das heisst, die bestimmten eigenschaften der platten werden auch für bestimmte wirkungen eingesetzt. das mono-objekt wurde für dieses projekt von grund auf neu konstruiert und hat noch keine geschichte. diese geschichte beginnt dann im juni ... wie lange diese geschichte dauert wissen wir noch nicht, denn sie wird mit dem letzten anlass noch nicht zuende sein.
vielleicht ist es jetzt interessant noch über die einzelnen situationen und das gesamtkonzept von mono 1/03 zu sprechen.

 

neugier ist uns wichtig

kargel: ja auf jeden fall. du hast vorhin erwähnt, dass die 23 orte knotenpunkte, schnittpunkte sind. unsere idee war, die vernetzung einmal anders zu gestalten, nämlich nicht alle punkte in einem punkt zu bündeln, sondern effektiv ein netz zu knüpfen.
wir ziehen zwischen dem 1. und 28. juni von tag zu tag von knotenpunkt zu knotenpunkt. die einzelnen punkte sind aus völlig verschiedenen inhaltlichen gründen knotenpunkte. es gibt geografische, historische, soziale gründe und so weiter. das heisst, es gibt zum beispiel einen länderschnittpunkt, wo wir mitten auf der grenze spielen ...

neuhaus: wir können ja gleich dieses konkrete bespiel erzählen: wir spielen auf der grenze zwischen konstanz und kreuzlingen, zwischen zwei ländern. das soundobjekt steht auf der grenze und jemand spielt in deutschland und jemand in der schweiz. es steht also das objekt im zentrum und wir stehen in einigen metern entfernung gegenüber und bündeln den klang im zentrum.
in romanshorn spielen wir am hafen an einem verkehrsknotenpunkt, wo sich fähre und eisenbahn und strasse treffen.
in st.gallen war die idee an einem ort alter und neuer worte zu spielen ... es hat sich so ergeben. wir waren auf der suche nach einem wissenschaftlichen schnittpunkt, da hat sich st.gallen angeboten mit seiner stiftsbibliothek und ganz zufällig - oder auch nicht zufällig - mit dem wortwerk.
ein weiterer knotenpunkt ist der säntis. wir spielen dort an einem technischen und geografischen knotenpunkt auf der bergstation auf der terrasse.

kargel: dann gibt es einen schnittpunkt an der oberösterreichischen eisenstrasse ... es sind lauter orte, die frei zugänglich sind, wo man auch zufällig hinkommen kann. das war uns sehr wichtig, dass jemand zufällig hinzukommen kann.
dann war uns wichtig orte auszuwählen, die nicht primär musik- oder kulturbesetzt sind. es geht also nicht um orte, wo eine kasse steht und man eintritt bezahlen muss. wir suchten orte, wo wir mittendrin sind, und wo wir uns mit den orten auseinandersetzen können ...
die insel werd ist in diesem zusammenhang auch sehr interessant. es gibt an solchen orten auch völlig andere umgebungsgeräusche, eine andere atmosphäre ...

neuhaus: unsere ganze konzeption hat sehr viel mit organisation zu tun. einerseits müssen es offene plätze sein, auf denen wir spielen, andererseits müssen wir bewilligungen kriegen, das heisst, wir müssen unseren auftritt auch veranstalten können. wir haben an allen orten verbindungsleute, die wir versucht haben für unser projekt zu begeistern, um so vorzu zu sehen, wie wir unser netz weiterspannen können.
so gab es für uns sehr interessante verbindungen. es gibt zu beispiel einen ingenieur in einem donaukraftwerk in oberösterreich, der ganz begeistert mitarbeitet. oder dann der bahnhofsvorstand von bludenz, der mit seiner belegschaft mitarbeitet und so weiter ...

kargel: ich meine es ist für uns auch ganz interessant diesen response zu kriegen im bezug auf die nachfrage. es besteht offenbar auch bedarf nach dem projekt. in dem zusammenhang war es uns auch wichtig, dass wir diese kontakte selber pflegen und dass da nicht ein veranstalter mit seinem jahresprogramm dazwischensteht. wenn wir unsere eigenen veranstalter sind, sind wir auch flexibel.

kuhn: um jetzt doch noch auf das publikum zurückzukommen ...

kargel: was erwarten wir von den rezipienten, was müssen die mitbringen, was wollen wir von ihnen? was wir erwarten ist offenheit. es ist wirklich nur die offenheit.
ich habe sehr viel im industriellen kontext gearbeitet. man könnte jetzt denken, dass leute, die in fabriken arbeiten, mit elektroakustischer musik nichts anfangen können. man denkt, die würden ja auch nie in solche konzerte gehen. selber denkt man auch, dass man nur stört.
es ist aber ganz interessant, in so einem betrieb gibt es unheimlich viel zu sehen und zu lernen. wenn man mit diesem kontext arbeitet, ihn ernst nimmt, dann hat das so viel mit diesen menschen, die dort arbeiten und mit ihrem umfeld zu tun, dass meine arbeit wie eine neue perspektive auf deren eigene arbeit eröffnet. es rückt diese leute eigentlich uns zentrum und macht sie wichtig und nimmt sie wichtig.
wenn solche projekte nicht mit ACHTUNG KUNST angeschrieben sind und abgeschrankt im konzertsaal stattfinden, dann ist es überhaupt kein problem für diese leute einen zugang zu finden.

neuhaus: es war uns wichtig, dass das ganze reduziert wirkt, um dem publikum seinen zugang zu ermöglichen. die form die daraus resultiert, wirkt recht abstrakt. wir haben bei andern aufführungen schon festgestellt, dass diese abstraktion und diese schlichtheit auch ein gewisses gefühl auslösen kann. diese neugier ist uns wichtig. man kann uns ja auch über die schultern gucken, man kann zu diesem objekt hingehen. es gibt dann auch zusätzliche informationen. und wir haben auch unsern dritten mann dabei, unseren techniker ...

kargel: ... unseren kulturtechniker ...

 

kontrollierte resonanzkatastrophe

kuhn: hat das publikum auch einfluss auf die musik? oder ist das, was man zu hören kriegt, das, was ihr spielt?

neuhaus: bei uns ist die spielweise in sehr ausgeprägter weise vom ort abhängig. wir überlegen uns im voraus, was wir an einem ort spielen. das heisst, wir haben inhaltliche gründe für unser spiel. wir überlegen auch auf welche weise wir spielen. wir informieren uns über den ort, die geschichte und so weiter. dann hat das wetter einen einfluss auf unser spiel.
das heisst, wir spielen mit dem ort, mit den geräuschen und klängen, die im moment stattfinden. wenn ein vogel vorbeifliegt kann das ein akustisch einschneidendes ereignis sein. es kann aber auch sein, dass man es überhört.

kuhn: das heisst aber: ihr braucht klänge des ortes?

neuhaus: wir spielen mit ganz wenigen basisklängen. ines spielt mit zweiminutenklängen ...

kargel: die klangbearbeitung ist in diesem zusammenhang für uns immer sehr viel wichtiger als diese basisklänge selber. die mittel der klangbearbeitung sind mittlerweile so vielfältig und komplex und so eingreifend, dass es relativ wurscht ist, was da drunter liegt. wir kommen sowieso überall hin, wo wir hin wollen. das heisst, wir müssen nicht mehr die konkreten klänge aufnehmen gehen - zum beispiel am güterbahnhof bludenz, wo es jede menge eisenbahngeräusche gibt - denn die assoziation, die struktur und das gefühl von eisenbahnzügen das kriegen wir auch hin, wenn wir nicht die konkreten eisenbahngeräusche verwenden.

kuhn: und das verschweigt ihr?

kargel: nein, das verschweigen wir gar nicht. es gibt etwas viel wichtigeres, was wir verschwiegen haben. nämlich die resonnierenden platten. es gibt nicht nur den einen weg, wie wir auf die platten spielen, sondern noch einen andern: die metallplatten in diesem klangobjekt werden mit tonabnehmern auch wieder abgenommen. wenn man weiss, dass jede platte, eigentlich jeder gegegenstand, eine eigenschwingung hat, dann kann man diese eigenschwingungen abnehmen und wieder auf die platte zurückleiten.
man kann die platte abnehmen und einzelne frequenzen auf die platte zurückleiten und verstärken und so eine rückkoppelung führen, sozusagen eine kontrollierte resonanzkatastrophe produzieren...

neuhaus: die “kontrollierte resonanzkatastrophe³ ist schwierig zu handhaben, funktioniert aber ganz einfach. alle kennen das vom livekonzert, wenn die mikrofone zu pfeifen beginnen: in diesem moment wird das signal des mikrofons über den lautsprecher wieder ins mikrofon gefüttert, wass zu einer rückkopplung führt. diesen prozess kann man auch steuern ... es gibt sehr viele töne, auf welche die platten empfindlich ansprechen und durch gezieltes verstärken einer platte auf sich selbst können diese hervorgelockt werden.

kargel: wir sind beim spielen auch miteinander vernetzt und können mit unserem setup gegenseitig die klangproduktion beinflussen.
das ist ein arbeitsgrundsatz von uns ganz generell, aus einem nukleus, aus einem inhaltlichen kern heraus ein ganzes projekt, die arbeitsweise, die mittel, die benutzt werden, die form zu entwickeln. und das ist in dem fall nicht anders.

neuhaus: wir organisieren das projekt ja zu dritt. die mediale verbreitung ist auch thema: wir unterhalten die internetseite, wo alle aufführungsorte auch beschrieben sind. da kommen auch laufend texte dazu.
wir werden dieses projekt dokumentieren und zwar wird es von jedem ort eine kamerafahrt geben: eine art spaziergang in der umgebung des ortes mit ton. davon werden wir am schluss eine cd-rom produzieren, einen katalog sozusagen.

kuhn: ihr werdet also keine musik-cd produzieren mit dem mono-projekt?

kargel: wir haben uns von diesem stücke- und werkegedanken wegbewegt und bevorzugen mittlerweile modulhaft oder prozesshaft sich weiterentwickelnde arbeiten. das heisst natürlich nicht, dass es nur livemusik gibt, sondern durchaus auch installationen, die vorerst live aufgeführt werden, dann aber bestehen bleiben. oder auch tapestücke ...

neuhaus: wir sind uns auch bewusst, dass eine installation immer eine zeitliche ebene einschliesst. es gibt immer eine vergangenheitsebene des ortes und eine zukunfts- oder vorstellungsebene und dann irgendwann mitten in diesen ebenen spielen wir dann auch noch live.

kargel: etwas schreiben und dann das stück aus der hand geben und das von irgendwem spielen lassen, das ist einfach nicht mehr die arbeitsweise, die uns interessiert. mal schauen wie sich das weiterentwickelt ...

 

 

 

 


das gespräch fand statt im rahmen des projektes «file sharing» matthias kuhn/wortwerk.ch im märz/april 2003 im projektraum exex st.gallen.
copyright (c) 2003 bei ines kargel/fabian neuhaus und matthias kuhn/wortwerk.ch
text-URL http://www.wortwerk.ch/file_sharing/textarchiv/kargelneuhaus_gespraech.html