«ich bin in der wüste und sehe einen brennenden busch.»

marcus gossolt, gianni jetzer, matthias kuhn und stefan rohner im gespräch.
freitag, 22. märz 2003, projektraum exex st.gallen.

was denken kunst- oder kulturschaffende zum krieg?

matthias kuhn: bei der art und weise wie die leute auf die aktuelle situation, den krieg in irak, reagieren, kommt mir immer wieder das wort psychohygiene in den sinn. du hängst ein plakat ins fenster, darauf steht NO WAR, und damit hast du etwas getan ... und zwar für dich, dass es dir besser geht.

gianni jetzer: ich denke, man kann schon etwas machen, man kann sich beteiligen. wenn du zum beispiel leute dazu anhältst 30 produkte des alltäglichen gebrauchs zu boykottieren, das heisst diese produkte nicht mehr zu kaufen. man verzichtet nicht mal auf viel. ich habe für mich beschlossen nicht mehr bei STARBUCKS kaffee zu trinken, auch kein COLA mehr zu kaufen, das ist jetzt fertig, ich kaufe gewisse produkte nicht mehr. ich habe eine liste erstellt mit produkten, die von den 50 grössten amerikanischen firmen hergestellt werden ...

marcus gossolt: ... und mit auto ist dein gewissen dann ganz schön gefordert!

jetzer: aber sogar dort kannst du deine auswahl treffen. BP zum bespiel ist mehr in europäischer hand als SHELL ... ich finde es wichtig zu schauen, woher die produkte kommen. MILKA zum beispiel ist amerikanisch, ebenso WELLA, O.B., ALWAYS und so weiter. es gibt extrem viele alltagsprodukte, die man nicht mehr kaufen kann: wenn viele leute diesen boykott unterstützen, das würde sich extrem auswirken.

kuhn: auf dieser ebene habe ich auch den eindruck, dass man etwas machen kann. ich habe auch wirklich im moment den eindruck, dass es sinn macht, auf eine demo zu gehen. wenn man sieht, wie viele demos überall stattfinden, wird auch sichtbar, wie gross der protest ist. mein problem war ein anderes. wenn man gefragt wird: was denkst du zu diesem krieg, was ist deine haltung? dann möchte ich in diesem zusammenhang unter keinen umständen zynisch wirken. und zwar nicht nur mit der konkret formulierten antwort, sondern auch mit der haltung, die diese antwort widerspiegelt.

jetzer: ich finde schon auch, dass man nicht anders reagieren muss als ein buschauffeur. im grunde finde ich, man muss das tun, was im bereich der möglichkeiten jedes einzelnen liegt und im bereich des glaubwürdigen.

kuhn: und im bereich der täglichen taten ... da wäre der produkteboykott ein beispiel dafür. die frage, die ich meine ist: was denken kunst- oder kulturschaffende zum krieg? diese frage stört mich.

gossolt: eine coiffeuse kann genauso eine politische meinung haben - obwohl zugegebenermassen ihre ansicht zum weltgeschehen nicht unbedingt ihr talent beeinflusst - aber es macht sie doch ungleich sympatischer.

kuhn: das ist bei den kulturschaffenden nicht anders!

gossolt: überhaupt nicht! es geht um die persönliche positionierung.

stefan rohner: ich finde es zum beispiel gut, dass kaurismäki nicht an die oscarverleihungen fährt. in denke, in amerika hat diese aktion eine wirkung.

gossolt: das hat damit zu tun, dass kaurismäki in der öffentlichkeit steht. so kannst du etwas bewirken.

rohner: so hat die frage an die kulturschaffenden schon ihren grund.

gossolt: aber die entscheidende frage aller kaurismäkis dieser welt ist nicht wie sie den kontext der kultur vertreten, sondern wie sie politisch ihr image als stars gewichten. umso besser, wenn dann das statement viele berührt und diese menschen zu weiteren taten anspornt.
wenn ich meinen pokerabend morgen absage, entscheide ich mich aus persönlichem interesse dafür - dass es im stern stehen wird, damit ist kaum zu rechnen. aber bei personen die im öffentlichen diskurs stehen haben solche statenments resonanz.

kuhn: das sind auch sinnvolle aktionen, die eine ausstrahlung haben. immerhin erfahren wir so in st.gallen, dass kaurismäki nicht einverstanden ist mit dem vorgehen der amerikaner.

gossolt: ich denke auch.

rohner: was ich als privater machen kann im moment, ist ganz persönlich: ich kann in gedanken bei diesen leute sein, die unter diesem krieg leiden. es geht um soldaten die leiden, um die irakische bevölkerung. ich versuche mich diesen leuten gedanklich zu widmen. man kann zum beispiel zehn minuten auf den marktplatz stehen. von amnesty gibt es bei folteropfern diese aufrufe: und die gefangenen haben das gefühl sie spürten das ... das ist alles ein bisschen vage ...

kuhn: da kann ich nichts damit anfangen. ich habe mir zum beispiel die sache mit den menschlichen schutzschildern überlegt ...

rohner: ja genau, das wäre doch wirklich effektiv.

kuhn: wenn wirklich zehntausende von europäern und amerikanern in flugzeuge steigen, nach bagdad fliegen würden und dort vor ort wären, was hätte das für eine wirkung?

jetzer: das ist dermassen unrealistisch ...

kuhn: ja, das finde ich auch. ich meine nur, wenn. könnte das eine wirkung haben?

jetzer: das würde ich mir gut überlegen, ob ich das machen würde.

kuhn: ich würde es nicht machen! ganz klar.

rohner: viele haben es aber gemacht.

kuhn: ich meine nur, dass es eine möglichkeit wäre zu intervenieren. ich glaube, dass es eine wirkung haben müsste. würden die amerikaner die bombardierungen nicht einstellen, wenn sie wüssten, dass fünfzigtausend europäer und amerikaner in der stadt sind.

 

es geht um eine aufmerksamkeit

jetzer: ich glaube es gibt verschiedene ebenen, die man nicht vermischen darf. im grunde genommen, hat die sache eben doch mit kunst zu tun. kunst hat sehr viel mit realität zu tun. indem du kunst machst, konstituierst du realität. es gibt oft diskussionen darüber, dass nur tausend leute ein ausstellung sehen kommen ... ich sage: es lohnt sich! auch wenn nur eine person kommt!
viel wichtiger ist, dass kunst als realität existiert. es gibt einen kunstraum, der kunstraum erhält gelder und stellt kunst aus, der raum hält raum frei für kunst, für die begegnung. das ist für mich das entscheidende. die protestkultur ist im gleichen feld anzusiedeln. dort geht es für mich nicht darum real etwas zu machen, oder real etwas zu bewirken. es gibt keine leitung, die bis nach bagdad führt, ich habe keine chance dahin zu kommen. es geht darum, eine kultur des widerstands aufrecht zu erhalten, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, denn wenn es diese kultur nicht mehr gibt, dann müssen wir wirklich angst haben.
wenn wir es jetzt einfach still hinnehmen, das plötzlich wieder eine imperialistische weltmacht da ist, die sich über UNO-resolutionen hinwegsetzt, dann ist das einfach nicht gut, dann muss man protestieren.
das ist doch genau das gleiche, wie wenn ich jemanden sehe, der auf der strasse geschlagen wird. da muss ich doch auch rufen: he, was ist hier los, was geht hier ab? ich kann auch hingehen und mich einmischen, auf die gefahr hin eins an die ohren zu kriegen. ich kann mich aber auch aus zehn metern distanz einmischen.
ich glaube, es geht um diese positionen und nicht darum, dass man sich in den nahkampf begibt. es geht um eine aufmerksamkeit.

kuhn: das sind, glaube ich, die zwei ebenen, die ich gemeint habe. was du sagst ist die legitimierung für demonstrationen und andere protestaktionen. das hat sicher eine wirkung in der wahrnehmung, man sieht, dass es auf der ganzen welt proteste gibt.

gossolt: das sind dann doch aber verschiedene dinge! gianni redet von institutionen ...

jetzer: nein, nein, ich rede vom privatmenschen.

gossolt: aber du als privatmensch unterscheidest dich ja effektiv nicht vom buschauffeur oder von der coiffeuse.

jetzer: ich sehe das eher als einsatz im rahmen von zivilcourage, wenn du so willst, als eine formulierung des protestes gegen die verletzung von demokratischen grundrechten. es geht mir darum, dass diese protestkultur da ist ...

kuhn: die musst du aber nicht als kulturschaffender machen.

jetzer: nein, sicher nicht. aber die coiffeuse hat zum beispiel andere möglichkeiten. sie redet doch den ganzen tag mit ihren kunden, so kann sie in ihrem rahmen sagen, dass sie betroffen ist. das kann ich in meinem rahmen ebenfalls tun. vielleicht kann ich diese betroffenheit in einer glaubwürdigen art und weise einbauen. ich fände es auch unsinnig, wenn jetzt die kunstschaffenden beginnen würden bilder zu malen und die in die fenster stellen. man darf die künstler nicht missbrauchen ...

gossolt: die grenzlinie zwischen zivilcourage und karriere-förderndem-unternehmen ist enorm diffus! wie edel war denn die absicht von zbigniew libera mit «LEGO concentration camp» im jewish museum new york? seiner laufbahn hat der aufstand um seine arbeit sicher nicht geschadet. ich bezweifle, dass eine künstlerisch-zynische reflexion zum aktuellen krieg uns im kunst- oder im politdiskurs weiterbringt. allein schon deshalb, weil sie verdächtig ist!

rohner: wenn jemand ein bild malen will und er kann eine wirkung erzielen damit, vielleicht eine ganz kleine nur, dann finde ich, soll er das bild malen. dann kann er machen was er will. ich finde es ist alles gut, was irgendwie nützt. was ich mich frage ist, ob kulturschaffende jetzt im moment etwas bewirken können oder etwas das weitergeht. der krieg ist nun mal ausgebrochen, die ganze maschinerie läuft, es geht jetzt aber weiter. wenn wir in die zukuft schauen, schauen, was in zwei drei wochen, in zwei drei monaten sein wird, was können wir dann machen? man müsste jetzt doch vorwärts schauen ...

 

es geht doch um einflussmöglichkeiten

gossolt: es geht doch um einflussmöglichkeiten. wenn du, wie gianni sagte, auf der strasse jemanden siehst, der zusammengeschlagen wird, dann hast du dort die option direkt zu intervenieren. dein arm reicht so weit! mein problem ist weniger die position als kunstschaffender oder wie viel ich in washington bewirken kann. vielmehr beschäftigt mich die emotionale herausforderung als vater. wie erkläre ich meiner vierjährigen tochter diesen krieg? oder verstecke ich ihn vor ihr? hier an diesem halböffentlichen tisch, an dem wir sitzen, finde ich es schon fast grundsätzlich zynisch darüber zu reden, ob wir COCA COLA trinken sollen oder nicht. natürlich kann man es lassen, aber wie wichtig ist es denn, dass die welt weiss, dass marcus kein COLA mehr trinkt?

jetzer: es geht nicht darum, dass es die welt weiss.

kuhn: es ginge doch darum, sich zu beteiligen ... ist das nicht die frage mit dem autofahren: was nützt es, wenn ich auf das auto verzichte?

jetzer: ich verzichte eben auf nichts, wenn du so willst. ich kann für alles ersatz finden. wenn ich COLA will, trinken ich AFRI-COLA oder MEKKA-COLA. es geht nur um eine umgewichtung, es geht darum, die alltagsgewohnheiten neu zu kämmen, das ist ganz einfach, das kann jeder machen. ich glaube, das kann sehr effektiv sein, wenn man es nur schon schaffen würde, den börsenkurs von einzelnen unternehmen um 15 bis 20% herunterzuholen, das wäre grandios, das würde einen irrsinnigen innenpolitischen druck erzeugen. wenn man etwa tun will, muss man, glaube ich, etwas oberbanales tun, gewissermassen undercover, im alltag ...

kuhn: so oberbanal ist das nicht, wenn du dir vorstellst, was damit gelingen könnte. ich finde, diese aktion ist ziemlich gut gezielt ...

gossolt: ich frage mich: ist das gelingen denn voraussetzung des bedürfnisses?

kuhn: da haben wir wieder diese zwei ebenen von vorhin. auf der einen ebene geht es um diesen zu kultivierenden protest. und auf der andern ebene, das ist etwas das wir alle spüren, wollen wir etwas tun können, das nützt. das ist die frage: wie kann ich konkret helfen? wie kann ich konkret etwas dazu beitragen, dass dieser krieg aufhört? wir spüren doch alle, dass es hier keine möglichkeit gibt einzugreifen ...

gossolt: das ging noch nie! - gott sei dank! stell dir vor es ginge ...

kuhn: du hast du das bild vom arm der reicht, um einzugreifen, gebraucht ... hier eicht der arm nicht.

gossolt: genau. doch für einen kaurismäki reicht der arm ...

kuhn: nein, der reicht niemals. er kann vielleicht mit seiner handlung ein gutes statement abgeben, aber er kann nichts tun. ich meine, nichts konkretes, er kann nicht direkt etwas bewirken. deshalb gefällt mir nach wie vor - auch wenn ich weiss wie unrealistisch es ist - die idee mit den menschlichen schutzschildern, weil ich mir vorstelle, dass das konkret den angriff stoppen könnte ...

jetzer: da geht es mir zu sehr um märtyrertum. ich möchte kein märtyrer werden. und überhaupt, wieso müsste ich dann in diesem krieg ein märtyrer werden? ein aspekt, den ich auch wichtig finde, es geht hier um ein total mediales agendasetting. es ist das grosse ding der ungerechtigkeit! was ich extrem schlimm finde, ist, dass sich eine nation über den entscheid einer staatengemeinschaft hinwegsetzt und x-tausend kilometer von ihrem staatsterritorium entfernt, interveniert, obwohl eigentlich keine feindliche handlung vollzogen worden ist.

rohner: das ist eigentlich kolonialismus.

jetzer: das ist kolonialismus pur. das alarmiert mich. mir geht es nicht darum, ob das schlechte oder das böse siegt, das schlechte und das böse ist dauernd präsent. ich verweigere mich diesem medialen agendasetting, das besagt, dass die opfer jetzt plötzlich im irak sitzen. die opfer sitzen überall ...

gossolt: genau da trifft es mich. das völkerrecht habe ich immer als bestmögliches arrangement verstanden und die UNO als ihr beschützendes institut. ich dachte das wäre gegeben und empfand es als grundsatz ...

kuhn: ... der von den jetzt kriegführenden nationen mitbestimmt wurde.

rohner: ok. ein grossteil der menschheit ist jetzt empört. es kann ja jetzt sein, dass dieser krieg nicht lange dauert und dass diese amerikaner das militärisch in den griff bekommen. und bush ist vielleicht dann schlussendlich sogar noch ein held. man muss dieses szenario in betracht ziehen. man kann jetzt nur zuschauen und hoffen, dass der krieg schnell und glimpflich vorbeigeht.

kuhn: ich habe letzthin eine zahl gelesen, die besagt, wieviel kriege auf der welt parallel stattfinden. das sind zwischen dreissig und vierzig kriegen. oder: letzte woche war die meldung in den nachrichten, in südirak seinen bomben gefallen. das war nicht kriegsbeginn, seit dem ersten golfkrieg fliegen die amerikaner über diese flugverbotszonen und werfen bomben ab ... es gab also sogar in dieser region einen - für unser friedliches empfinden - langandauernden kriegszustand. diese kriege werden uns aber medial niemals so vermittelt, wie jetzt der irak-krieg. es kommt mir mit diesem ultimatum und diesem exakten kriegsbeginn fast vor wie eine sportveranstaltung.

rohner: gut, es ist so. wir waren alle dagegen, jetzt hat der krieg begonnen und eine riesen medienflut kommt auf uns zu. irgendwie fühlt man sich da schon wie an einem fussballmatch. man hört wieder, dass ein helikopter abgeschossen wurde, jetzt ist das passiert, jetzt das ... und irgendwie sind wir auch parteiisch. wir wollen ja, dass saddam wegkommt von der regierung. ich finde es gut, zwischendurch etwas anderes zu machen, sonst bist du immer von nachrichten bombardiert ...

gossolt: das ist kein fussballspiel!

rohner: ich meine die inszenierung.

gossolt: die medien waren schon vorher da! die sind ein anderes thema. die empörung findet ja nie statt, wenn in papua neuguinea live im TV ein bus abstürzt. das betrifft dich nicht. was dir an die nieren geht, ist, dass hier eine wertvorstellung zusammenbricht ...

 

wir müssen versuchen, scharf zu denken

jetzer: wir müssen versuchen, scharf zu denken, denn das einzige, was wirklich von interesse ist, ist die völkerrechtsverletzung, momentan ... das ist das drama, und das ist alarmierend. es gibt seit dem zweiten weltkrieg keinen solchen verstoss gegen das völkerrecht. das ist schlimm. das betrifft unsere weltordnung. wenn man die weltgeschichte ganz holzschnittartig ordnen würde, könnte man sagen: kalter krieg, neunziger jahre mit hedonistischer superparty zur feier des sieges des kapitalismus über den kommunismus. während der neunziger jahre wurde diese vorrangstellung amerikas noch nicht zum problem und jetzt ist sie zu einem riesenproblem geworden, denn das ganze völkerrechtliche selbstverständnis, oder die ganze völkerrechtliche kultur, die in dieser zeit vermeintlich aufgebaut wurde, ist schon wieder nichtig. es ist offenbar keine selbstverständlichkeit, dass man einen staat nicht einfach so angreift. die ganze kaltschnäuzige arroganz und diese verletzung von völkerrecht ist eine katastrofe. im ersten irak-krieg sind zwischen 150'000 und 200'000 irakis gestorben. ich würde eher denen nachtrauern - denn um die ist noch viel zu wenig getrauert worden - als dass man jetzt die ersten irakischen opfer zum thema machen müsste. das ist jetzt noch nicht relevant, obwohl dieser zweite krieg genau gleich ablaufen wird wie der erste. da werden wieder 200'000 begraben. das ist kein thema. deshalb hat auch das peace-zeichen wieder hochkonjunktur, weil es gesamtgesellschaftlich wieder darum geht, sich mit der ganzen dummheit des menschlichen, allzu menschlichen auseinanderzusetzen, das man die letzten zehn, fünfzehn jahre ausgeblendet hatte, als auch die kriege nicht mit dieser prominenz im fadenkreuz der medialen berichterstattung standen.

gossolt: diese sicherheit war natürlich eine art von überblendung. man hatte sich in diesem zustand wohl eingebettet. für mich eröffnet sich nun eine grundsatzfrage: wie kriegt man einen zustand der balance hin ohne sich dabei etwas vorzumachen? es gibt immer unterdrückte und unterdrücker! welches ist aber die ethisch vernünftige balance und welches ist die instanz, die diesen zustand zu halten vermag. völkerrecht und UNO haben tiefste wunden davongetragen - sofern sie es denn überhaupt überleben werden. das ungleichgewicht ist eine realität, ob nun krieg herrscht oder nicht. und solange ich weiss, dass ich selbst immer eine legitimation finde für mein auto, solange kann ich mir selbst nicht vertrauen. ich überblende ja auch aus eigennutz. man muss unvernünftig leben können, um überhaupt existieren zu können. das summiert sich im grossen. es ist eine schwere enttäuschung, dass diese werte jetzt so mit füssen getreten werden. das ist meine empörung. aber es war offensichtlich erwartbar.

kuhn: wie steht es denn mit den gefühlen jetzt und damals, als die amerikaner afganistan angegriffen haben? dort hat sich der militärschlag durch die terrorangriffe legitimiert ...

jetzer: das war ähnlich.

kuhn: ich kann euch völlig beipflichten, was die empörung über diese völkerrechtsverletzungdurch das arrogante vorgehen von bush und co. angeht. das ist völlig klar, und daran gibt es nichts zu rütteln. was mir aber komisch vorkommt bei solchen ereignissen ist, wie das mass der betroffenheit und empörung durch die art und weise wie solche ereignisse durch die medien vermittelt werden, steuerbar scheint ...

gossolt: was wenn das ganze eine kalkulierte werbekampagne der amis ist? sie lassen erst das klima in europa bis zum gefrierpunkt sinken, um dann mit einer vorgedachten humanitären geste die gesamte westliche welt wieder in friede-freude-eierkuchen zusammenzuschweissen. dann mutiert bush mit umgekehrten vorzeichen - wie stefan sagte - zum helden ...

kuhn: ist bush denn ein held, wenn er uns den toten saddam zeigt?

rohner: die sind doch naiv ...

kuhn: es geht doch hier um eine mediale geschichte ...

jetzer: nein, das ist keine mediale geschichte. du kannst es vielleicht vergleichen mit der wiedereinführung der hexenverbrennung. klar kannst du diese hexenverbrennung medial inszenieren, aber im grunde genommen ist das rückwärtsschreiten einer liberal-demokratischen kultur tragisch. das ist das schlimme. das ist auch das einzige was mich interessiert. das ist unabhängig von der vermittlung ...

kuhn: ja, das ist unabhängig ...

jetzer: das schlimme ist die grösse des schadens. amerika ist nun mal eine supermacht mit den finanziellen möglichkeiten einer supermacht, wenn ein kleines land diese verletzung begeht, dann wirkt sich das einfach anders aus. es ist einfach ein unterschied zwischen einem kleinen regionalen konflikt, oder einem konflikt an dem eine supermacht mit der grössten armee beteiligt ist.

rohner: ich finde es wäre ein grosser unterschied, wenn der angriff durch die UNO legitimiert worden wäre. wenn der krieg beendet ist, dauert das jetzt wahrscheinlich jahrzehnte, dass die amerikaner dort stationiert bleiben, weil sie von dort aus den nahen osten demokratisieren wollen.

gossolt: es hätte ja noch schlimmer kommen können. wenn die UNO dem unternehmen krieg in letzter minute ihre absolution erteilt hätte ...

rohner: ich finde das entscheidende ist, dass die UNO den krieg eben nicht legitimiert hat ... die gefühle, die ich am 11. september vor zwei jahren hatte, die kommen jetzt wieder: dort hatte ich das gefühl, dass jetzt wirklich etwas losgeht, an diesem dienstagnachmittag. innerhalb von stunden hatte ich das gefühl, das hat folgen, das wird viel verändern. dieser krieg jetzt, das ist ein teil davon ...

gossolt: was matthias vorher gesagt hat von wegen medialer beeinflussung ... natürlich sind die medien vermeintlich böse ... aber wir bilden uns ja aufgrund von informationen unsere meinung und die medienrealität ist eine tatsache von vielen ...

 

der nachrichtenwert ist praktisch gleich null

kuhn: ich habe auch nicht gesagt, die medien sind böse. ich meinte etwas anderes: wir sind abhängig von den informationen, die wir durch die medien erhalten. es gibt ereignisse - und das hat nichts mit dem ausmass der ereignisse zu tun, die jetzt geschehen - von denen wir nichts wissen, folglich empört es uns nicht. dieser krieg jetzt wurde von den medien sehr lange und gründlich vorbereitet - das hat wieder nichts damit zu tun, wie massiv die verstösse der amerikaner sind und wie arrogant ihre haltung ist. wir stützen uns auf diese informationen. wir haben ja keine andern. eine zeugin berichtete in einer radiosendung, dass in amerika über die kriegsopposition im eigenen land in den medien nicht informiert werde. das ist eine art selbstauferlegter zensur. diese tatsache beeinflusst doch mit sicherheit extrem die meinungsbildung der amerikaner. was wir hier an informationen erhalten, ist doch bestimmt tausendfach gefiltert. und ich frage mich: was sind die informationen wert, die wir erhalten?
oder: schweizer fernsehen, morgens um halb acht, am tag des kriegsausbruchs, eine sondersendung: da wird nur im konjunktiv gesprochen. die wissen genau so wenig wie wir. aber sie sprechen trotzdem über die aktuelle lage und analysieren sie. das gehört offenbar zu dieser vermittlung die das fernsehen zu leisten müssen vermeint. das meine ich, beeinflusst unsere meinungsbildung in einem unglaublichen mass.

jetzer: du kannst dich doch verweigern. ich schaue praktisch kein fernsehen und ich höre nur noch radio, wo es praktisch keine nachrichten gibt. das interessiert mich tatsächlich überhaupt nicht. ich bin auch ziemlich misstrauisch gegenüber den medialen informationen.

kuhn: das misstrauen müsste eigentlich immer grösser werden.

jetzer: und vor allem kommt es wirklich schon fast in die nähe des unterhaltungssektors. ich war letzthin im kino und habe den film «lia forever» gesehen. ein film über eine junge drogenprostituierte. eigentlich ist es die geschichte «justine» von de sade: ein tugendhaftes mädchen, das tugendhaft bleibt, obwohl ihr extrem viel scheisse passiert, obwohl sie die ganze niedertracht menschlichen handels am eigenen leib miterleben darf. trotzdem glaubt sie an das gute, ist selber gut und bekommt nur ständig eins in die fresse. dort habe ich mich auch gefragt: will ich das sehen? es ging mir auf dokumentarischer ebene zu nah ...

kuhn: der film ist dokumentarisch?

jetzer: nein, er ist es eben nicht, aber wie er gefilmt ist, geht er ans lebendige und ist für mich als unterhaltung ungeniessbar. ich leide darunter. wenn ich ihn als unterhaltung anschaue, oder - im weitesten sinn - als wissensvermehrung über die grausamkeit der welt, dann nehme ich automatisch für mich eine zynische position ein, wenn ich nichts dazu mache und mich unterhalten lasse und auch fünfzehn franken eintritt zahle und dann sehe wie eine junge drogenprostituierte immer mehr ausgenutzt wird von immer skrupelloseren verbrechern.
ich glaube, das ist genau gleich mit dieser medienberichterstattung: ich weiss, wie dieser krieg ist und ich weiss ungefähr wie dieser krieg läuft und ich kann mir auch die ganzen abgründe vorstellen und die ganzen fünfzehn tomahawk in die richtung und zehn scud-raketen in die andere richtung. das kann ich mir wirklich schenken. der nachrichtenwert ist praktisch gleich null. das interessiert mich nicht, dass da null nachrichtenwert ist.

rohner: ich höre zum beispiel echo der zeit am abend, und schaue 10 vor 10. die gefahr ist schon, dass man dauernd fernsehen schaut. das ist für mich das eine. und das andere ist schon die frage: kann ich etwas machen? und wie?

kuhn: mal doch ein bild.

rohner: ich würde auch mal ein bild malen, wenn es was bringt ...

jetzer: du kannst dich doch auch dieser medieninformation verweigern!

gossolt: das ist für mich zweischneidig: auch wenn du kein fernsehen schaust, beeinflusst es trotzdem deine ganze wahrnehmung - egal ob du ein gerät besitzt oder nicht. dennoch bist du nicht das gespiegelte abbild des mediums fernsehen. du hast ja noch andere infokanäle. du weißt zum beispiel, die faust in die fresse tut weh, das musst du nicht jeden tag spüren. deine kanäle reichen ja auch bis zur politischen coiffeuse! du verlässt dich auf dieses netzwerk, das ja nicht nur aus medien besteht, sondern auch aus fleisch und blut ... aus betroffenem fleisch und blut!

kuhn: du bildest dir deine meinung multi-medial.

gossolt: meine tochter schaut ja auch kein fernsehen! ich muss für mich selber, ohne dass die ganze welt davon erfährt, entscheiden, was ich ihr gegenüber kommuniziere und was nicht. hauptsache ich handle nicht als zensurierter verlängerter arm der medien ...

kuhn: du funktionierst aber als medium ...

gossolt: ja natürlich, aber ich meine: du musst versuchen als vernünftiger und eigenständiger Mensch zu denken.

kuhn: ok, medienverweigerung: du kannst nicht zeitung lesen, du kannst nicht radio hören, du kannst nicht fernsehen, das kann man machen. aber die vermittlung verläuft ja - und das meinte ich vorhin - die vermittlung läuft doch multimedial. es ist doch so, dass dieser krieg das thema nummer eins ist im moment, nicht nur im fernsehen, sondern auf der strasse und auch hier bei file sharing.

rohner: das ist aber überall so, nicht nur bei den künstlern ...

kuhn: nein, das meine ich nicht. ich rede nur von meinem beispiel ...

rohner: dem kannst du dich nicht entziehen ...

kuhn: dem musst du dich auch nicht entziehen, ich sage nur, das ist der grund, weshalb ich mühe habe, mich dem zu verweigern. ich weiss auch nicht wirklich, weshalb ich am mittag das radio einschalte, um nachrichten zu hören.

gossolt: du kannst dich verweigern, indem du eine zynische position einnimmst und dich unterhalten lässt ... aber ich habe einen andern verdacht ...

 

kunst ist eine unpragmatische art sich zur welt zu äussern

kuhn: halt, was soll heissen, sich unterhalten lassen?

jetzer: das ist eine unterhaltung. ich habe mich zum beispiel auch über die alinghi regelmässig informiert, aber im irak-krieg weiss ich, wie es herauskommt. es wird behauptet, die hightech-waffen seien chirurgisch präzise und am schluss gibt es trotzdem 200'000 tote.

gossolt: ich habe einen simplen verdacht. aus gründen des überlebens ist der mensch bereit die absurdesten dinge anzunehmen und als gegeben zu akzeptieren. bush tut das ebenso. er stellt sich nicht wirklich die frage von gut und böse. ein fingiertes system kämpft um das «länger-leben-als» der fingierten tatsachen und ist zu allem bereit. unsere reaktion ist der identische mechanismus: unser system ist im begriff sich aufzulösen. wir sind entrüstet und gehen auf die strasse. wahrscheinlich sind wir zuguterletzt doch nur von uns enttäuscht.

jetzer: dieses ganze system beginnt schon bei der wahl von bush.

rohner: ich finde das grundproblem ist, dass eine so grosse macht wie amerika einen präsidenten hat, der allein so viel macht hat. ich finde das system, wie wir es in der schweiz haben, das zwar träge ist, bei dem aber die macht verteilt ist, immer noch gut.

gossolt: du sagst, dass man in keinem moment etwas - einen menschen, eine institution, ein land, egal was - aus seiner trägheit befreien darf, weil es dann, wenn es zu schnell und zu aktiv wird, automatisch zum gefahrenherd mutiert. alles was träg ist, ist demnach friedlich. das ist doch eine allzu kindliche vorstellung von weltfrieden.

rohner: ich stelle mir manchmal vor, dass diese ganzen menschlichen gefühle, also die gefühle von ein paar milliarden menschen, durch chemische und physikalische prozesse des sonnenmagnetfeldes ausgelöst werden. ich denke dann manchmal schon, wieso können diese menschen auf diesem globus nicht anders funktionieren. sie machen alles kaputt ...

jetzer: andrerseits passiert immer mal wieder etwas verblüffendes. bei stadtfesten zum beispiel da drängen sich eine halbe million menschen auf engstem raum und es passiert gar nichts. die toleranzwerte sind genauso erstaunlich wie die totalen ausfälle des sozialen verhaltens. das ist doch das erstaunliche.
was ich spannend finde - abschliessend - dass wir - ihr als künstler und ich als kurator - alle einen weg gewählt haben, der absolut nicht pragmatisch ist. kunst ist eine unpragmatische art sich zur welt zu äussern, oder sagen wir, ein gewisses allgemeines weltgeschehen zu reflektieren. ich glaube, da muss man sich wehren, wenn diese forderung an uns herangetragen wird, wir müssten uns äussern. wir müssen uns das ganze jahr über äussern zu unserer gesellschaftlichen entwicklung und zu unserer kultur, sei es medienkultur, sei es kulturelle identität, sei es ethnische durchmischung, neue gesellschaftsformen. dazu müssen wir uns das ganze jahr äussern.
wenn man politik machen will, wird man politiker, oder man kauft sich heutzutage eine fernsehanstalt, aber man ist sicher nicht künstler. kunst ist ein subtiler kanal, der nicht sehr laut ist aber nachhaltig.

gossolt: du sagst, dass künstler per se nicht pragmatisch sind. ich würde exakt das gegenteil behaupten.

jetzer: in europa interessieren sich vielleicht 3% der bevölkerung im ansatz für gegenwartskunst. wenn du also einen grossen trichter suchst, bist du in der kunst sicher am falschen ort. da gibt es keine grossen trichter, es gibt vielleicht kleine trichter, die manchmal ziemlich laut werden können, oder es gibt plötzlich echos, weil aus dem kleinen trichter ein grosser schwall kommt.

rohner: ich denke als künstler alle paar monate mal, dass ich jetzt besser zu einer sozialhilfeorganisation wechseln würde. ich habe immer den anspruch als künstler in der gesellschaft etwas bewirken zu können.

kuhn: ist das ein ziel von dir?

jetzer: ja, das muss schon ein ziel sein ... aber auf realistische art und weise. nicht im sinn von: ich bin in der wüste und sehe einen brennenden busch. nicht so. realistischer.

 

 

 

 


das gespräch fand statt im rahmen des projektes «file sharing» matthias kuhn/wortwerk.ch im märz/april 2003 im projektraum exex st.gallen.
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