«im kunstbetrieb herrscht verlegenheit.»

matthias kuhn im gespräch mit kurt schmid.
mittwoch, 13. märz 2003, projektraum exex st.gallen.

von der tautologie zum inter-face

matthias kuhn: solange es kunsträume gibt, die kunst zeigen, gibt es mindestens jemanden der weiss, das es kunst gibt ...

kurt schmid: ja, aber das ist reine tautologie. das war schon immer so. zum beispiel in der «art as art»-bewegung mit ad rheinhard:«art is art as art», oder «art is art».

kuhn: ich wollte gerade vorschlagen, die kunst jetzt definitiv abzuschaffen, um über die wirklich interessanten projekte zu sprechen. denn das tun wir ja eigentlich, wenn wir über den hacker sprechen. du betrachtest einen typ, eine arbeit, eine strategie, die er verfolgt, du stösst auf ein komplexes system: das ist interessant, weil es verschiedene fragen aufwirft, die es zu diskutieren lohnt. dazu brauchen wir keine kunst.

schmid: ich möchte einen schritt zurückgehen. der schritt ist dieser: was ist denn die strategie der kunst gegenüber dem, was sie macht und zeigt? im unterschied zum beispiel zu fernsehen? das muss die kunst zeigen! es reicht nicht, dass sie in kunsträumen stattfindet.

kuhn: da hast du recht.

schmid: also musst du zeigen können, was sie im unterschied ist. was sie macht, was anderes nicht macht, oder was sie effizienter macht, oder lustiger, oder poetischer, oder kreativer.
ich behaupte in meiner «verlegenheitsthese», dass alle diese Unterschiede als argumente aus der kunst verschwunden und dekonstruiert worden sind. es ist kein einziges mehr übrig geblieben. kunst ist insbesondere nicht mehr schneller, sie ist nicht mehr avantgardistisch, sie kann nicht mehr behaupten, dass sie in der bildgenerierung schneller ist als andere.
deshalb sage ich in der these «pur», dass kunst nicht mehr genial, sondern bestenfalls noch genuin ist. das heisst, dass die kunst dann mindestens zeigen muss, in welchem bereich sie genuin ist.
wenn es wirklich wahr ist, dass sie nur noch den inneren zirkel betrifft, der das versteht, dann hat die kunst keine aussage mehr und ist zu einem selbstperpertuierenden system geworden. was mich aber wirklich im zusammenhang mit kunst interessiert, ist das inter-face, das inter-pretieren, das zwischen-hineinschieben, zwischen das, was gemeint sein könnte und das, was ist.
das wäre für mich das hackermotiv. ein hacker ist deshalb interessant, weil er inter-faces macht. und zwar in diesem fall wirklich wörtlich: er geht zwischen die gesichter hinein. er geht über das interface in irgendein system hinein, das einen abgegrenzten aussagecharakter hat oder zumindest anvisiert. dann schaut er dieses gesicht/image, diese aussage an und sagt: dieses gesicht könnte man auch noch ganz anders sehen! er konstruiert dabei nicht ein neues system, sondern sagt: es hat keinen sinn, diese aussage in einem andern kontext abzubilden oder zu kommentieren, es hat auch gar keinen sinn, das image als thema aufzuarbeiten, zum beispiel im kunst- oder im politkontext. ich muss diese aussage in ihrem eigenen system, im selben, originalen kontext erwischen. deswegen versucht der hacker, in dieses system etwas zu plazieren, das dieses system uminterpretiert. so kommen wir vom interface als zugang zum system zur inter-pretation, zum inter-face.
das ist das, was mich interessiert. mich interessieren systeme mit deutlichen, begrenzten kontexten, zum beispiel werbung oder oder systeme zur elektronischen überwachung. das sind hochentwickelte systeme mit einer riesigen faszination. der hacker negiert sie nicht, er ist ebenfalls davon fasziniert. er zeigt aber, dass er dem bestehenden system noch eine andere dimension, ein anderes gesicht, abgewinnen will und kann.
eine seiner möglichkeiten ist, dass er einen virus einpflanzt. er kann aber auch versuchen, dieses system umzuinterpretieren. stell dir vor, wenn es einem hacker gelänge, dem pentagon glaubhaft zu machen, es sei ihm gelungen, alle steuerungssysteme der interkontinentalraketen so zu beeinflussen, dass diese genau auf der mitte des weges umkehren.
was ich sagen will: die «art as art»-geschichte ist dann interessant, wenn mindestens einer der mythen der modernen kunst erhalten bleibt.
es gibt viele mythen in der modernen kunst, die mir immer noch gefallen. zum beispiel barnett newmans «the sublime is now».
wenn man nun aber alle mythen der kunst abschafft - und damit sind wir bei der these «dekonstruktion» - verliert die kunst die möglichkeit, irgendwelche inhalte darzustellen, die über die kunst hinausweisen. all die metaphysischen geschichten, oder die idealistisch gefärbten, oder transzendentalen geschichten gehen verloren. was mich nun interessiert ist, ob es gelingt, sich innerhalb solcher kontexte wie netart im sinne von inter-faces zu bewegen und zwar so, dass eine wirkung ausserhalb des kunstraum-kontextes entsteht, ob da projekte entstehen, die ein starken gehalt, eine starke wirkung haben, welche über die wirkung anderer systeme hnausreicht - oder in sie hinein.

kuhn: du sagst, der künstler ist nicht mehr fähig über das system hinauszuweisen ...

schmid: nein, ich sage: wenn der künstler nicht mehr den anspruch hat, über sein system hinaus etwas zu behaupten, dann muss er sich nicht wundern, dass es tatsächlich so ist.

 

verlegenheit

kuhn: ich bin immer davon ausgegangen, dass es ein komfort der kunst ist, dass man in den kontext der kunst importieren kann, was man will, und in diesem kontext mit diesen importen etwas anfangen kann was man sonst nirgends anfangen kann. spielen, recyceln, montieren, sampeln ... interpretieren. das bietet eine sehr grosse freiheit. die arbeitstechniken sind den techniken aus andern gebieten sehr verwandt, aber die ziele unterliegen andern gesetzen und du bist vom zwang, ein resultat vorlegen zu müssen, befreit.
wenn kunst nur im kunstsystem spielt und nicht darüber hinausweist, ist die frage, ob kunst überhaupt noch interessant ist ...

schmid: ... und vor allem, für wen sie noch interessant ist.

kuhn: deshalb gefällt mir das bild vom hacker sehr gut. denn der hacker macht sich das system in dem er arbeitet äusserst medienadäquat und ausserdem subversiv zunutze für seine kreativität. wenn der hacker nun der konsequentere künstler ist als der künstler selbst ...

schmid: subversion ist der bekannteste der aspekte, es kann aber, wie gesagt, auch um interpretation oder uminterpretation gehen.

kuhn: interpretation, uminterpretation: das sind doch die ansprüche an die kunst, dass sie nämlich etwas umsetzen kann. dass sie sich themen importiert und diese umsetzt. dort kann kunst auch genial werden ...

schmid: ich glaube, interpretation ist die aufgabe des fernsehens. seit es das fernsehen gibt, wird genau dieser anspruch vom fernsehen eingelöst und genau dafür ist die kunst schlicht nicht (mehr) nötig. ich behaupte, dass immer das medium am stärksten wirkt, welches in einer mittleren komplexität (medium) einer gesellschaft entspricht. deshalb hat es auch die grösste chance rüberzukommen. und die mittlere komplexität ist abhängig vom medium. das heisst, in einer äusserst komplizierten welt, wie wir sie heute haben - wo z.b. die öffentlichkeit viel weiss - muss ein komplexes medium her, das viel abbilden kann und trotzdem die information auf ein mittleres mass zurückbuchstabiert. somit gewinnt das medium eine konsenstiftende, gegenüber der realität reduktionsmindernde wirkung. dadurch entsteht das leitmedium.
das leitmedium ist seit den 60er-jahren das fernsehen und nichts anderes.
wenn wir jetzt dieser frage nachgehen, wer eine übersetzung leistet, und zwar egal wovon, auch von wissenschaftlichen erkenntnissen, dann würde ich sagen: sicher nicht die kunst. es ist das fernsehen, das diese leistung erbringt. und die mittlere komplexität, die das fernsehen hat, ist weitaus komplexer als die komplexität der meisten kunst, die ich kenne.
unter anderem sind viele werbeaussagen oder viedoclips mit einer dermassen grossen komplexität verpackt, dass ich die künstlerische botschaft sehen möchte, welche diese komplexität überbietet. wenn kunst aber nur und noch mehr reduziert, dann wird sie entweder banal oder blöd oder falsch ...

kuhn: falsch wird sie, wenn man sie zu weit rücksetzt ...

schmid: was ich behaupte ist: wenn es richtig ist, dass bereits das fernsehen über eine mittlere komplexität verfügt, die weit über den schnitt der künstlerischen botschaften hinausgeht, dann sieht das für die künstlerische seite verdammt bitter aus.
da kann man weiterfahren: wenn internet-botschaften die komplexität das fernsehen noch steigern und immer noch kommunikativ sind - und zwar abgesehen vom inhalt und abgesehen davon, wer die projekte macht - und kunst sich gewissermassen dadurch profiliert, dass sie auch hier wieder die komplexität reduziert, dann ist das kein qualitätszeichen und schon gar kein wirksamkeitszeichen.
ich sage nicht, dass kunst nicht möglich wäre und behaupte nicht, dass sie nicht hochintensiv sein kann. das hat die moderne kunst ja auch gezeigt, wie man intensitäten festmachen kann: aber ich will das dann auch in der kunst von heute sehen können. die intensitäten müssen wirklich vorhanden und nicht propagiert sein. wenn ich aber keine oder wenig spannende gegenwartskunst ausmachen kann, bleibe ich bei der verlegenheitsthese.

kuhn: beim fernsehen leuchtet mir deine argumentation ein, dass man die komplexität verringern muss, dass die botschaft für ein publikum tauglich wird. worin liegt dann aber der sinn, dass die kunst nicht beliebig komplex sein kann?

schmid: ich würde nicht sagen, dass sie nicht beliebig komplex sein darf. kunst darf beliebig komplex sein, sie muss die komplexität aber zuerst einmal zustandebringen. ich will ja nicht kunst als ein ding der unmöglichkeit postulieren, im gegenteil, wenn man die verlegenheit der jetzigen situation anschaut und deutlicher wieder zu sagen wagt, was man meint, will und auch (nicht) vermag, ist man vielleicht besser dran, als wenn man so tut, als würde man all das, was in der these «bildverweis» behauptet wird, auch tatsächlich fertigbringen.
bei den gelben thesen habe ich die bannerträger, die kunst-werbe-botschaften genommen, die überall und immer wieder auftauchen.
mich interessiert im projektraum: was passiert jetzt hier? welche intensitäten bauen sich auf? ich habe natürlich hoffnungen, befürchte aber, es könnte sehr unterschiedlich ausfallen ...
die verlegenheitsthese ist nicht ein urteil, sondern die befürchtung, dass wir in der kunst an einem sehr schwierigen punkt stehen.

 

erweiterung des werkbegriffs

kuhn: wenn man deine beiden grauen thesen als feststellungen liest, feststellungen, wie sich die situation im moment präsentiert, dann frage ich mich, wie ein künstler seine arbeit rechtfertigen kann. die frage stellt sich vor allem dort, wo künstler werke schaffen. werke interessieren mich gar nicht. viele berufsbilder haben sich mit der zeit verändert ... müsste man das berufsbild künstler verändern?

kuhn: der erste punkt ist, dass die kategorien des bildnerischen überschritten worden sind und dass prozesse in gang gesetzt worden sind, die man überhaupt nicht als künstlerisch wahrnimmt. ich würde wieder sagen, das sind die künstler, die inter-faces machen. die gehen in die oszillierenden zwischenräume hinein und man weiss nie, geht es um eine künstlerische haltung oder um anderweitige aussagen.
das spielt alles auf der ebene des mediums. es geht darum, was der künstler macht und wie er seine kunst macht. etwas anderes ist der künstlerische anspruch. ich würde behaupten, dass der anspruch, den die kunst haben könnte und haben sollte, gar nicht anders ist, als er früher war. nur wagt sich keiner mehr, das zu sagen.

kuhn: der anspruch?

schmid: der anspruch darauf, was die kunst macht und welche aussagen sie macht. wenn du zum beispiel vom werkanspruch sprichst und sagst, den wollen wir gar nicht mehr, würde ich sagen, gut, der werkanspruch misst sich vielleicht nicht an den traditionellen werkkategorien. der werkanspruch ist und bleibt aber, dass etwas (eine arbeit) etabliert wird, das über den moment und über die zeit hinaus eine strahlkraft hat, die geheimnisvoll ist, weil sie neu interpretiert werden kann. und dafür braucht es irgend einen träger. auch der kopf der leute kann ein träger sein.
bei barnett newman hat man diese frage diskutiert: ob man eine sublime botschaft, den anspruch auf einen über die warhnehmung hinausgehenden gehalt überhaupt in ein bildwerk verpacken kann. ich würde sagen, die frage ist nicht, ob man das kann, sondern ob man das (noch) fertig bringt.
ich würde am anspruch festhalten und auch nicht fragen, ob ein werk überhaupt noch möglich ist oder nicht - diese frage finde ich völlig müssig. die frage ist: was muss ich tun, damit ein werk einen werkanspruch bekommt, der in den traditionellen formen ziemlich bekannt ist, von dem ich aber nicht weiss, worin er heute bestehen könnte. das ist eine weitaus interessantere frage als die, ob ich ein werk schaffen soll oder nicht.
auf deine frage, was denn das werk sei: ja, das ist die frage! man kann die frage nur nicht in der kategorialen form nach dem werk schlechthin stellen.

kuhn: gut, du plädierst für eine erweiterung des werkbegriffs ...

schmid: ja, absolut.

kuhn: ... und lenkst die argumentation vom anspruch ans werk auf einen anspruch an die kunst um?

schmid: ich mache den anspruch an die kunst so fest: energien sind im moment dort, wo inter-faces geschaffen werden, eben dort, wo man aus diesem «art as art»-kontext herauskommt. nicht, weil ich nicht an diesen kontext glaube - es sind wie gesagt hervorragende sachen aus diesem kontext hervorgegangen - sondern weil ich denke, dass sich das alles in einer grausamen verlegenheit erledigt hat - im moment.
es gab verzweifelte situationen, wie etwa im vorfeld und während des ersten weltkriegs, als alle diese dada-leute in einer abgeschiedenheit und letztlich in einer gesellschaftlichen isoliertheit versucht haben, die aussichtslose situation auszudrücken, indem sie u.a. den kunstbegriff abgeschafft haben. wir wissen, dass in der folge trotzdem wieder kunstwerke entstanden sind. aber in der haltung kommt dort eine intensität auf, die immer noch spürbar ist und zwar weniger im gegenstand, nicht im arpschen relief, sondern im impetus. den finde ich lebendig. das ist der virus.

kuhn: haben denn die lebensumstände von künstlern den entscheidenden einfluss? es war ja wahrscheinlich bei dada das letzte mal, dass kunst direkt aus einer existenziellen bedrohung entstanden ist ... oder umgekehrt: haben die lebensumstände heute etwas damit zu tun, dass künstler in verlegenheit geraten ... du hast von spielwiese und luxus gesprochen ...

schmid: ich denke schon, dass die lebensumstände einen einfluss haben. sylvie fleury oder john armleder, die schwimmen ganz bewusst auf der luxuswelle, oder com&com, welche die warhol-tradition aufnehmen und mit ihren medien medien umsetzen. sie alle zelebrieren die lebensumstände geradezu. das tun sie alles andere als verzweifelt. aber es ist verlegen ... sylvie fleury im kunsthaus bregenz zum beispiel ...

kuhn: dort ist die luxuriöse verlegenheit gleich doppelt ...

schmid: ja sie wird aufgedoppelt. ich habe dort aber auch die installation von wolfgang laib gesehen. obwohl sie nicht rundum glücklich war, habe ich sie als sehr intensiv erlebt. dort ist von luxus nichts spürbar. der arbeitet dem luxus diametral entgegengesetzt ...

kuhn: immerhin akzeptiert er den luxus des ortes.

schmid: und er nimmt auch den luxus an, etwas machen zu können, was eigentlich höchst unsinnig ist. aber er hat eine geste, die ich bei einer kunstauffassung festmachen würde, die sagt, ich etabliere hier eine (genuine) bedeutung für etwas, wie das niemand sonst in dieser form macht. und das ist mir ganz wichtig: ich sammle blütenpollen. wenn ich das genug intensiv und genug lange mache, bekomme ich einen stoff, der jenseits der gängigen werk-kategorien oder sonstiger gegenstände liegt. diese suche und darstellung bekommt einen rituellen gehalt. auch seine drei unbesteigbaren berge kommen in eine interpretation hinein, in eine inter-face-situation, die ausgezeichnet funktioniert. das hat einen poetischen gehalt. den finde ich inter-essant.

kuhn: hat dieses inter-essant-sein auch etwas mit irritation zu tun? wir hatten verschiedene beispiele von projekten, die irritierend sind. auch deshalb, weil sie ausserhalb der gängigen kriterien liegen. das dazwischen-liegen irritiert ja sehr stark ...

schmid: die irritation spielt auf der oberfläche. was ich jetzt aber von der kunst erwarte, geht wirklich einen schritt weiter. viele sind bereits zufrieden, wenn sie eingreifen und einen prozess stören können. ich finde das auch wirksam und interessant. wenn der prozess gesellschaftlich, inter-subjektiv, relevant ist, dann bin ich froh, dass er gemacht wird.

 

die gesellschaftliche relevanz von kunst

kuhn: ist die gesellschaftliche relevanz ein kriterium?

schmid: von der kunst her muss man das kriterium gesellschaftliche relevanz diskutieren. gesellschaftliche relevanz ist sicher ein kriterium.
der fokus, den ich für die kunst sehe, ist aber nicht wirksamkeit, störung, irritation und gesellschaftliche relevanz. da gibt es ganz andere systeme, welche diese funktionen besser erfüllen können.

kuhn: das ist ja mein einwand. wenn du sagst, dass das fernsehen gewisse funktionen besser erfüllt als die kunst, dann muss doch die kunst sich nicht mehr um diese funktionen kümmern ...

schmid: ... das glaube ich auch ...

kuhn: ... und zum beispiel die eröterung gesellschaftlich relevanter themen ...

schmid: ... das muss die kunst nicht. und sie muss das schon gar nicht behaupten. es gibt solche strategien: rainer ganahl zu beispiel, der listig im bereich gesellschaftlicher interfaces, gesellschaftlicher systeme, kunstsysteme arbeit. er ist aber nur deshalb interessant, weil er sich zwischen den systemen bewegt. sobald er etwa soziologisch greifbar würde, implodiert das ganze.
ich denke, es bleibt dabei: in und mit der kunst liegen aussagen drin, welche sonst keiner macht, die keiner mehr wagt, z.b. ganz singuläre geschichten oder ganz unmögliche geschichten, wo die kriterien, weshalb sie für andere interessant sein sollten, nicht klar sind.
die frage ist nicht, ist das ein werk oder nicht, die tatsache ist, ob eine arbeit funktioniert und wirkt. und nicht umgekehrt. ich sehe immer wieder, dass einzelne projekte funktionieren und finde es nicht entscheidend, ob sie mit künstlerischem anspruch daherkommen oder nicht. deshalb sind projekte wie «blinkenlights» spannend, weil die leute, welche die installation am alexanderplatz in berlin machten, das aus ihrem hacker-interface-verständnis heraus einfach einmal realisierten und ein minihochhaus bespielten.

kuhn: dieses projekt würde aber den kriterien von kunst vollauf entsprechen und könnte deshalb kunst sein. es ist aber nicht notwendig, dass es kunst ist. es macht nur im bezug auf das publikum, auf die rezeption einen unterschied, ob es sich um kunst handelt, oder nicht ...

schmid: du wendest hier die ontologische kategorie an: es ist kunst, es ist nicht kunst. ich finde, das ist gar nicht die frage. wenn es wirkt, und wenn es diese intensität hat, dann ist es egal, ob das unter dem label kunst läuft oder nicht. wer weiss, ob nicht einmal in der kunstgeschichte des 21. jahrhunderts geschrieben werden wird, es sei eigentlich interessant, dass man projekte wie blinkenlights dannzumal nicht als kunst wahrgenommen habe.

kuhn: ich meine nicht, dass man entscheiden müsste, ob es kunst ist oder nicht, ich meine, wenn man dieses projekt als kunst sehen würde, würde man es anders einordnen, als wenn du es in einem völlig andern zusammenhang als unabhängiges, intensives projekt wahrnimmst, zum beispiel beim überqueren der strasse ...

schmid: «blinkenlights» reduziert die hausfassade auf ein einfaches computerspiel. da wurde z.b. tetris gespielt. das war der anfang. mittlerweile sind die in der komplexität vorangeschritten. «blinkenlights» reduziert die komplexität stark. es ist simpel und in diesem kontext trotzdem faszinierend: von den dimensionen her, von seiner art widerborstigkeit her, auch vom humor her ...

kuhn: und es ist auch überraschender als die komplexe lösung, die für uns normal ist.

schmid: ja. und es hat einen reduktionistischen anspruch, den ich fast generell für die kunst des 20. jahrhunderts herausstellen würde als der anspruch, welcher bleibt. an den avantgardecharakter glaube ich wirklich nicht mehr. was hier und jetzt ein zusätzlicher gedanke ist, der mir ganz spannend scheint: wenn ich ganz konkret schaue - wir haben vorhin von der fernsehwelt gesprochen, vom vermittlungsmedium mittlerer komplexität - und dann zahlen sehe, die besagen, dass videogames die nummer 1 sind in der verkaufsrangliste, vor der pornoindustrie und vor der ganzen filmindustrie, wenn das bedürfnis zu gamen den grössten markt generiert, vor den anderen bedürfnissen, also auch vor der ganzen hollywood-geschichte, die man ebenfalls als hochwirksam einstufen muss, und die künstler fragen, ob sie werke produzieren sollen ... dann finde ich in diesen (fehlenden) zusammenhang ausserordentlich interessant. da muss ich zum beispiel sagen: thomas feuerstein, du bist auf dem richtigen weg. künstler müssen mehr spiele entwickeln und die spiele müssen infam, genuin sein und sie müssen besser sein und inter-faces...

kuhn: das ist ja genau der punkt. das computergame «biophily» von feuerstein ist ja nicht besser. es ist, wenn du es zum beispiel mit «tomb raider» vergleichst dermassen langweilig ...

schmid: da sind wir (leider) wieder bei der verlegenheitsthese. und ich muss dann einmal mehr feststellen: wir sind verlegen, weil wir nicht in dieser komplexität arbeiten können. wir müssen uns aber an diesem massstab messen. und wenn du sagst, ich will keinen werkbegriff, hast du resigniert. dann nimm dir mal vor, in einem bereich etwas zu machen, was deutlich besser ist. ich weiss, das ist ein wahnsinnsanspruch. aber womit trittst du denn eigentlich an?

 

kunst, die interessanter ist als computergames

kuhn: ist es aber möglich und interessant, kunst zu machen, die besser ist als computergames? die games müssen doch völlig anderen ansprüchen genügen, die müssen zum beispiel wirtschaftlich sein, die müssen einem andern wettbewerb genügen ...

schmid: wechseln wir mal die sparte. glaubst du an einen unterschied zwischen e- und u-musik? oder hast du irgendwelche kriterien, wie du kitsch von etwas unterscheiden kannst, das nicht kitsch ist?

kuhn: subjektive kriterien habe ich schon. wenn du mir etwas zeigst, dann kann ich dir sagen, ob das meiner meinung nach kitsch ist oder nicht ...

schmid: eben. daran würdest du festhalten? wenn du solche kriterien hast, würde ich sie auf unsere frage anwenden. dann musst du sie hier auch anwenden. dann kannst du nicht sagen, es ist nur kitsch und langeweile möglich. das geht einfach nicht. du kannst sagen: ich sehe das problem des anspruchs - und kanns nicht lösen. das musst du sogar sagen.
und stell diesen verdammten anspruch und sag gleichzeitig: ich kanns nicht! aber sag nicht, es ist prinzipiell nicht möglich ... dagegen wehre ich mich. das ist wirklich verlegenheit, das ist die selbstabschaffung der kunst. die kunst muss den wahnsinn wagen, zu sagen: das will ich, ich behaupte das, ich weiss ich kann scheitern, ich weiss ich kann völlig daneben sein, das ist mir völlig klar. das ist ein risiko, eine hohes risiko ...
das kann man der kunst nicht abnehmen. auf der hochsubventionierten spielwiese kann man sich sicher bewegen, aber man darf sich dann nicht wundern, wenn das keine intensität mehr bringt ...

kuhn: das stimmt nicht ...

schmid: na ja, ich wollte nicht zynisch sein.

kuhn: die sache mit dem themenimport und die themen dann aber nicht besser verarbeiten können, wohin das führt, hat man ja mit der ganzen lifestyle-welle gesehen. im kontext der kunst können keine besseren möglichkeiten entwickelt werden ... wenn das dazu führt, dass man die styles kopiert und in kunsträumen parties feiert, dann fehlt doch irgend etwas. auf einer anderen ebene geschieht dasselbe beim versuch, computergames als kunst zu machen ... das funktioniert aber nicht.

schmid: das ist aber mindestens ein thema. auch das zweite thema, das du anschneidest - lifestyle - eine thema das auf der werbeebene hochprofessionell vermittelt wird. wenn kunst das will - und das soll sie doch wollen, als inter-face mit einem produkt oder einer lifestyleaussage rüberkommen - dann darf sie nicht resignativ auftreten. sie muss mit singulären sachen kommen, die auf andere überspringen. zum beispiel mit rätselsituation, mit mystischen situationen, die dem leben inhärent sind, das muss gar nicht religiös sein ... ein unbesteigbarer berg zu beispiel. unbesteigbare berge sind da: unüberwindbare situationen, unhinterfragbare bedingungen. situationen die aber sind, die persönlich, gesellschaftlich relevant sind, die aber brach liegen ... und die, fälschlicherweise, den leuten überlassen werden, die draus ein geschäft machen - sekten und so weiter.
wenn ich mir überlege, was da auf dem psycho- und gesundheitsmarkt für eine protoindustrie entstanden ist, die nichts anderes macht, als gewissermassen die ausfallserscheinungen zu kompensieren, muss ich sagen, das ist auch eine gewaltige spielwiese, die, wenn man sie ernst nimmt, sehr spannend ist, als inter-face spannend wäre. wenn es hier dinge gibt, die aus dem kunstkontext kommen und eingreifen, fände ich das spannend.
oder «file sharing» zum beispiel: du strebst mit dem thema eine ernsthafte recherche an. die intensität, die du erreichen willst, besteht darin, dass das projekt interagieren soll, dass das projekt wahrgenommen werden soll, dass leute sich einmischen sollen. die leute sollen sollen einen kontext einbringen, der von dir vielleicht nicht mitgedacht wurde. das alles soll rüberkommen. wenn das funktioniert, bist du selber mit deinem projekt in einem zwischenbereich, fragend entwickelnd. die frage ist, ob hier etwas läuft, ob da eine intensität entsteht - oder man sagen muss, wir bleiben bei der ersten these.

kuhn: ob es dann hier aber um kunst geht, ist eigentlich gleichgültig. was ist denn kunst? man kann diese frage nicht beantworten. das ist auch gar nicht interessant, diese frage zu beantworten. vielleicht ist es interessanter, immer bessere fragen zu finden?

schmid: nein. es ist interessanter, immer bessere projekte zu machen. natürlich können die projekte auch auf dem hintergrund eines kunstdiskurses angesiedelt sein. der allein interessiert mich aber nicht sehr. mich interessiert, ob es gelingt, eine intensität hinzukriegen, die rätselhaft bleiben muss ...

 

hacker als die interessanteren künstler

kuhn: du sprichst von der wirkung. die rätselhaftigkeit hat doch damit zu tun, dass du etwas nicht auflösen kannst, also findest du's interessant. es gibt offenbar kriterien dafür, wie kunst für dich als betrachter wahrnehmbar und interessant wird. interessant und intensiv sind doch aber sehr subjektive kriterien ...

schmid: natürlich ist das subjektiv, wenn du etwas siehst oder hörst und du merkst, alles andere lässt dich völlig kalt. obwohl du rein analytisch eigentlich sagen müsstest, oft ist das besser gemacht, was dich kalt lässt. das ist und bleibt rätselhaft. dem künstler, der diese freiheit, um den begriff noch einmal aufzunehmen, nutzt und von dort her eine wirkung entfaltet, ist etwas ausserordentliches gelungen. dann hat er oder sie einen immensen anspruch an ein projekt, an das heraus-projizieren von etwas, das er oder sie nicht weiss. deshalb musst du auch nicht die kunst suchen.
es kann ja, wie gesagt, sein, dass der hacker später einmal, in einer kunstgeschichte des 21. jahrhunderts als hochinteressanter künstler angesehen wird, weil in sachen intensität und interface-bildung etwas gelungen ist, was anderswo nicht gelungen ist. so interpretieren wir rückwärtsgewandt immer wieder um. ich denke, man muss ernst nehmen, dass man in der eigenen situation über die sicherheit der kriterien nicht verfügt. kunst ist und bleibt ein balance-akt.

kuhn: ich kann als künstler die intensität eines projektes sowieso nicht kalkulieren. ich kann nur bis zu einem punkt arbeiten bis das projekt für mich stimmig ist. nicht einmal das ist bewusst konzipierbar. und dann sind wir wieder gleich weit ...

schmid: aber achtung, ich glaube nicht, dass das zur folge hat, dass wir auf einen naiven kunstbegriff oder auf eine naive haltung regredieren können. man könnte jetzt sagen: in diesem fall, wenn das so ist, müsste man sich um die kunstentwicklung und um den ganzen kunstdiskurs nicht kümmern. dann käme es ja nur drauf an, dass jeder unmittelbar sieht, was «kunst» ist. das ginge dann richtung «art brut». daran glaube ich nicht.
ich glaube die spannendsten leute sind jene, die beides vereinen: eine hohe kompetenz im reflektieren der situation, ein hohes problembewusstsein und gleichzeitig eine hohe risikobereitschaft, eine hohe fähigkeit, aus dieser situation herauszuspringen, ohne dabei zu wissen, wohin sie damit kommen werden.
es gibt frühe bänder von bruce naumann, wo diese verlegenheit - und er sagt er ja selber, dass er nicht wusste was ein werk ist, also genau deine frage hat er sich gestellt - dazu führte, dass er mit einfachen handlungen und der videokamera herumprobierte. und man spürt diesen prozess, man spürt, dass er dauernd denkt: scheisse, ich kanns nicht! und das hatte eine intensität, die er fünf jahre später so nicht mehr aufbrachte. und wenn er dasselbe heute zelebrieren wollte, hätte es diese intensität auch nicht ... es wäre lächerlich.

kuhn: es ist ja wieder mal bezeichnend, dass diese beispiele 40 oder 50 jahre alt sind.

schmid: «blinkenlights» ist nicht 50 jahre alt.

kuhn: ja, ok. aber braucht es denn keine künstlerische absicht?

schmid: doch.

kuhn: hat «blinkenlights» aber nicht.

schmid: ich behaupte ja, dass die alten künstlerischen absichten, die alle dekonstruiert worden sind, alle noch gültig sind, dass es nur keiner wagt, sie als solche darzustellen, weil sie begründet dekonstruiert sind. und dass wir jetzt in der verlegenheit drin sind, zu sagen, die absichten sind noch da, aber wir haben die strategien nicht mehr, wir bringen sie nicht mehr rüber, wir wissen nicht mehr, wo wir kunst situieren müssen, wir haben keinen werkbegriff mehr. es gibt im sinne einer moderne keine einheitliche ideologie mehr, wenn es die denn je gegeben hat.

kuhn: ich weiss nicht, inwiefern «blinkenlights» als beispiel funktioniert, weil bei diesem projekt keine künstlerische absicht dahinter steckt. es funktioniert dann, wenn man ein beispiel braucht für ein projekt ohne künstlerische absicht, für ein, mit deinen worten, intensives projekt ...

schmid: es kann aber eine künstlerische absicht bekommen.

kuhn: ja, es kann eine bekommen. aber nur dann, wenn das projekt von diesem standpunkt aus betrachtest ... das werk hat diese absicht doch nicht einfach ...

schmid: du bist wieder in diesen ontologischen kategorien drin. ich begreife dich nicht. ob das projekt diese absicht hat, spielt doch keine rolle, ob es sie in der wirkung bekommt ist wichtig. ich habe von einem projektbegriff gesprochen - übrigens stark auf flusser bezogen - der sagt: man muss projizieren, d.h. zu behaupten wagen. ich hätte gerne, dass kunst wieder eine wirkung bekommt, aber ich weiss nicht, wie das geschehen soll. es gibt für mich die prinzipielle frage, was kunst ist und was nicht, nicht. es gibt nur die frage a) ob du etwas mit kunstanspruch überhaupt machst, b) mit welcher absicht dies im speziellen geschieht, c) welche wirkung du damit entfaltest, d) ob eine wirkung inter-subjektiv wahrgenommen und diskutiert wird. und dann stellt man vielleicht fest, dass man gehofft hat, auf diesem weg kunst zu finden, sie aber an einem ganz andern ort, zum beispiel in der hackerszene, stattfindet.
ich gehe übrigens davon aus, dass das absolut clevere leute sind. das problem ist denen völlig klar. ich denke nicht, dass diese leute die sache naiv angehen. dass sie zum beispiel für kunst am bau eingeladen werden, zeigt, dass der wirkungs-connex bereits längst hergestellt ist.

kuhn: der connex könnte auch hergestellt sein, wenn sie naiv sind. was du aber sagst ist, dass kunst in der wahrnehmung entsteht. wenn ich ein künstler bin ist das, was ich mache, nicht automatisch kunst?

schmid: es kann sein, dass neben dir einer arbeitet, der etwas ähnliches macht wie du, aber es findet in einem andern kontext statt und es sind ganz andere leute, die davon wissen und daran partizipieren. wie die wirkung dann entsteht, das ist ein rätselhafter prozess. immer unter der voraussetzung allerdings, dass jemand wagt, etwas zu projizieren, etwas auf diese matrix des nicht-vorhandenen zu projizieren und zu sagen, ich linke mich da ein mit dem ganzen risiko des lächerlichen, des scheiterns, des banalen, des kitschigen, des überflüssigen. und risiko wirklich in der meinung, dass es kriterien gibt, wie man kitsch von nicht-kitsch unterscheiden kann, wie im beispiel e- und u-musik. aber ich halte daran fest, es gibt projekte, es gibt projektionen. wir müssen heute von einer verlegenheitssituation ausgehen. denn sehr viele funktionen der kunst, auch der modernen kunst, werden längst von andern weit effizienter wahrgenommen.

 

pur

kuhn: was ist denn eigentlich absicht?

schmid: eigentlich kommen wir erst jetzt zur vierten these, die ich «pur» genannt habe. du fragst, was ist absicht? absicht ist, zu zeigen, was andere nicht zeigen, absicht ist es, sich einzumischen, absicht ist, das kunstvermittlungssystem zu brauchen. vielleicht braucht man das kunstvermittlungssystem als tarnkappe. vielleicht braucht man es listig, weil man das projekt unter diesem namen machen kann, und unter einem politischen namen ginge es nicht. wenn man das projekt unter marktwirtschaftlichen kriterien machen würde, ginge es auch nicht. aber unter dem label kunst geht es: ich will es pur in diesem kontext drin machen, in dem ich mich befinde, wo ich auch den anspruch entsprechend erhebe ... nachher zu wissen, ob es gelingt und ob ich eine wirkung entfalten kann, das ist nicht drin. und da sind wir wieder beim werkbegriff.
wenn ein werkbegriff daran festhält, dass es eine wirkmacht gibt, die etwas, was ich in mein werk hineingelegt habe, weiter trenszendiert über den moment und über die situation hinaus, dann habe ich einen werkbegriff. den muss ich nicht in klassischen kategorien festmachen. es muss eine idee da sein, die ein problem so auf den punkt bringt, dass die leute gar nicht anders können, als die sache als absolut wichtig anzuschauen. dann ist bereits eine idee oder ein gedanke ein werk.
wenn man die kunstgeschichte anschaut, dann sind wirklich alle motive, eins nach dem andern, systematisch dekonstruiert worden, bis es sie nicht mehr gab. am meisten eingeleuchtet hat mir das im kontext der «minimal art», wo ein donald judd mit seinen spezifischen objekten auf dem hintergrund der kunstentwicklung des 20. jahrhunderts, ganz klar für sich festgestellt hat, dass er die ganze modellwirkung und die über das werk hinausweisende wirkung nicht mehr für seine arbeiten reklamieren will. er sagte, ich mache nur ein spezifisches objekt für einen spezifischen ort, mit einem pragmatischen anspruch. es muss eine art von aufladung des raumes passieren, das, was judd «loaded space» genannt hat. wenn diese aufladung nicht passiert, ist die arbeit läppisch. am schluss ist man beim spezifischen objekt angelangt, das -scheint mir - wie der schlusspunkt des «mythos' der moderne» daherkommt. das war der endpunkt einer entwicklung.

kuhn: dieser werkbegriff hat aber sehr viel mit architektonischer raumbildung zu tun und ist sehr selbstgenügsam.

schmid: selbstgenügsam heisst real, existierend. selbstgenügsam heisst nicht, dass die arbeit keine wirkung entfalten kann.

kuhn: das meine ich nicht. aber es scheint mir als einmaliges statement tauglich, aber um weiterzudenken ist es nicht tauglich ...

schmid: das meinte ich damit, dass das spezifische objekt der schlusspunkt einer entwicklung ist: ein artefakt am ende des labyrinths. das labyrinth ist die moderne und der artefakt ist nicht anderes als zum beispiel eine judd'sche kiste ... und damit ist es dann fertig, ein wunderbarer abschluss.
aber eines mache ich daran fest: wenn etwas einmal dekonstruiert ist und nicht mehr funktioniert, dann bleibt dir gar nichts anderes übrig, als etwas neu zu machen. und das ist genau der letzte anspruch der dekonstuiert worden ist, nämlich der anspruch, dass die kunst das vermögen habe, etwas neu zu machen, also der avantgarde-anspruch. gut, jetzt holen wir diesen anspruch wieder hervor: weil alles dekonstuiert ist, müssen wir neu beginnen. das neue darf nur nicht mit diesem überkommenen avantgardebegriff verknüpft sein ... jeder tag ist neu, jedes kind das zur welt kommt ist neu, jede katze, die überfahren wird, ist neu überfahren ... es gibt vieles, das absolut neu ist, aber nicht den anspruch der avantgarde hat. wenn wir nicht mehr wissen wie, dann müssen wir tatsächlich neu anfangen.

 

wagemutige, fahrlässige, wahnsinnige behauptungen

kuhn: wo geht es denn, rein kunsthistorisch gesehen, nachher weiter?

schmid: die konstruktion geht im projekt weiter, wenn leute wagemutigst, fahrlässigst, wahnsinnigst einfach behaupten und einfach etwas in die gegend setzen, das sie dann mit einer künstlerischen aussage verbinden, die ihnen derart wichtig ist, dass sie sie einfach machen.

kuhn: was hat die aussage, dass man nichts neues mehr machen kann, dass es nichts neues mehr gibt, mit deiner these zu tun?

schmid: du hast vorhin richtig gefragt, kunsthistorisch gesehen. mit dieser betonung, kunsthistorisch gesehen, kann man gar nichts neues mehr machen. aber: jeder atemzug, den ich mache ist neu. ich habe den vorher nämlich nicht gemacht. und dann ist er schon wieder vorbei. und ich mache den nächsten. und solange ich das machen kann, ist er neu. ich halte daran mit absoluter notwendigkeit fest, dass er neu ist. und ich sage dann auch noch, er ist die bedingung meiner existenz. und da gehe ich selbstverständlich davon aus, dass da eine ungeheure power drin ist. das ist neu. diese kategorie des genuinen lasse ich mir in keiner art und weise nehmen. und dann brauche ich auch diesen hintergrund der kunst nicht, die mir sagt, nach diesen kriterien, die wir festgestellt haben, nach diesen unendlichen beispielen, die wir in der kunstgeschichte des 20. jahrhunderts ausgebreitet haben - das ist letztlich dann auch ein medienproblem, die simultane darstellung - sei nichts neues mehr möglich. man kann nichts mehr neues machen, ist von der kategegorie kunst her gesehen richtig und von einer andern kategorie, welche nicht weiss, was kunst ist, absolut läppisch. es gibt viele dinge, die aus sich heraus neu sind.
ich gehe genau gleich mit der beliebigkeitsthese um. es ist richtig, dass es im kunstkontext eine unendliche beliebigkeit gibt. aber ich gehe grundsätzlich davon aus, das das, was ich mache, nicht beliebig ist. da verfüge ich über viele massstäbe und ansprüche. ich habe viele projekte und genau das gleiche risiko zu scheitern in meinen täglichen handlungen. da würde ich weit von mir weisen, dass mein handeln beliebig ist.
die retrogewandte kategorisierung und vergleichskategorie «neue kunst» interessiert mich nicht. mich interessieren die andern dinge, die genuinen. ich möchte mich nicht mehr unendlich lange darüber unterhalten, dass es nichts neues und viel zu viel beliebiges gibt im kunstkontext. ich möchte herausfinden: wo gibt es genuine ansätze?

 

 

 


das gespräch fand statt im rahmen des projektes «file sharing» matthias kuhn/wortwerk.ch im märz/april 2003 im projektraum exex st.gallen.
copyright (c) 2003 bei kurt schmid und matthias kuhn/wortwerk.ch
text-URL http://www.wortwerk.ch/file_sharing/textarchiv/schmid_gespraech.html


 

 

These 1
Verlegenheitsthese

Kunst als Avantgarde? Kunst als Kunst?
Nach dem Verblassen der real existierenden «modernen Kunst» in der Postmoderne und angesichts der Herausforderung durch Multimedia herrscht im Kunstbetrieb - immer noch! - Verlegenheit.
Nicht das Gesamtkunstwerk wird endlich multimedial möglich, sondern die Grenzen zwischen den Sparten bildende Kunst, darstellende Kunst, Musik und Architektur und Literatur sind weitgehend verschwunden. Netzkunst und IT-Kunst überhaupt bedient sich der Möglichkeiten - und wird entscheidend von ihnen instrumentiert. Weiter als bis anhin kommt sie damit nicht.

Kurt Schmid

 

These 2
Bildverweis

Kohärenz künstlerischer Arbeit i.w.S. zeigt sich eher im Projekt, im kommunikativen Netzwerk, in der Intensität, der Authentizität, dem subjektiven Akt, dem Verwirrspiel, der Antiautorschaft usw. denn im «Werk».
Der Geltungsanspruch bildnerischer Kunst zeigt sich weniger im Modell, welches über sich hinausweist, als im Prozess des Bildverweises. Künstlerische Arbeit immaterialisiert sich. Ohne im Konzept stecken zu bleiben, sucht sie Realisierungsformen, Umsetzungen, die, je überraschender, unabsehbarer, nicht vollständig kontrollierbar, wandelbarer sie sind, an Intensität gewinnen. Vorbild ist der Hacker, der inter-agiert, sich ein-mischt, in realen und virtuellen Systemen den Kunstvirus einpflanzt, sich in komplexen Systemen auskennt, möglichst autonom gebärdet und Verwendungszwecken listig entzieht.

Kurt Schmid

 

These 3
Dekonstruktion

Die Zeiten, als Kunst als Medium transzendentaler (religiöser, ethischer, politischer, ästhetischer Art) Botschaften auftrat, scheinen endgültig vorbei zu sein. Sie vertritt weder über sich selbst hinausweisende Modelle noch einen damit verbundenen Geltungsanspruch im Sinne einer verändernden Wirkmacht.
Mit dem Verlust der Bezugssysteme wird Kunst (im herkömmlichen Sinne) sinnlos. Bezüglich neuer Kriterien herrscht keine neue Doktrin sondern Verlegenheit.

Kurt Schmid

 

These 4
Pur

Kunst ist an der Oberfläche angelangt und ist anstatt genial nun genuin: Sie zeigt, was andere nicht zeigen, sie mischt sich ein und nutzt das Kunstvermittlungssystem als Tarnkappe (Künstler und Narren sagen die Wahrheit). Künstlerische Wahrnehmung wird zur wahr-Nehmung, künstlerische Produktion zur Konstruktion virtueller Gegenwelt.

Kurt Schmid