Die Bibliothek von Tengor
von Franz Wenzel

 

 

Jeder Wanderer muss sich an der Kreuzung oberhalb des Dorfes entscheiden. Jeder nimmt schliesslich die steile Gasse ins Dorf hinunter.
Obwohl jeder Ankömmling etwas anderes vorgehabt hat, den Besuch in einer der Gastwirtschaften am Hauptplatz zum Beispiel, es gibt gute Würste in Tengor, serviert mit Brot, oder auf einem Krautbett, auch mit Bohnen und Speck, besucht nie ein Wanderer eine Wirtschaft.
Oder er hat vorgehabt, auf dem kleinen Bahnhof auf den nächsten Zug in die Stadt zu warten. Am Bahnhof von Tengor warten nie Wanderer auf einen Zug. Alle entdeckten sie auf dem grossen, kalten Hauptplatz, zwischen den machtgebietenden Steinpalästen, am grössten der Gebäude die Hinweistafel. Ihr Weg hat sie gerade darauf zugeführt; alle vergessen sie vor dieser Tafel Hunger und Durst und besuchten die Bibliothek von Tengor in einem der grossen Steinpaläste.
Die Räume sind schlecht beleuchtet, die Regale stehen dicht. Die Buchrücken, schwarz, sind alle einheitlich golden beschriftet. Jeder Besucher befindet sich zu jeder beliebigen Zeit allein in den Räumen der Tengoreer Bibliothek. Immer hat der Bibliothekar in den Hinterzimmern zu tun. Er ist den ganzen Tag mit dem Aufrüsten der schadhaften Bände und mit dem katalogisieren der teuren Neuerwerbungen beschäftigt. Immer hört man ihn hantieren, hört seine Schritte auf dem geglänzten Parkettboden, der unter seinen Schritten knarrte. Nach einem kurzen Rundgang durch die Bibliothek, nach diesem ersten Versuch die Schriften auf den Buchrücken zu entziffern und die Ordnung der Bibliothek zu verstehen, befindet sich der Besucher wieder am Eingang und muss sich nun entscheiden. Dieses unschlüssige Abwägen, dieses zögernde Hin und Her, ist in jedem Fall Zeitverschwendung. Obwohl an den Regalen Numerierungen und Überschriften angebracht sind, sind nach diesem System die meisten Bücher unauffindbar. Die Bände sind zu unsorgfältig eingereiht worden, zu lange ist die Ordnung nicht mehr hergestellt worden. Wenn der Besucher nach längerem Zögern dann endlich in die Gassen zwischen den Gestellen tritt, findet er in jedem fall das Buch, das ihn interessiert, nach dem er letztlich suchte.
Die Bücher enthalten zum Teil Reisebeschreibungen und alte Fotografien aus der Gegend von Tengor, Tengoreica, aus der Gegend der Nachbarstädte, aus den Regionen des Landes und wahrscheinlich sogar aus fremden Ländern. Die Bücher enthalten Romane, Erzählungen, auch essayistische Schriften, die sich alle mit Menschen beschäftigen.
Kein Besucher verlässt die Bibliothek wieder, ohne in einem der alten Bücher seine eigene Wanderung beschrieben gefunden zu haben. Je länger er liest, desto sicherer ist er sich, dass er seine Wanderung nicht fortzusetzen braucht, zu genau hat er sie in einem dieser Bücher beschrieben gefunden, zu einfühlsam hat er sich selber in dem Bericht erwähnt gesehen. Alle Besucher vergessen ob den Beschreibungen die Zeit und lesen, zwischen den Regalen stehend, die schweren Bücher, aufgeschlagen in der Hand, oder auf einem der hölzernen Schemel sitzend, die bereitstehen, die oberen Regale zu erreichen, bis in den frühen Abend hinein, bis sie von der Glocke hochgeschreckt werden. Alle Leser versinken ein weiteres mal in die Lektüre, bis der Bibliothekar mit lauter, eindringlicher Stimme zum Verlassen der Bibliothek auffordert. Manch ein Lesender findet in der kurzen Zeit den Ausgang nicht, stellt sein Buch an den falschen Platz zurück und muss am Abend von der Putzfrau aus der Bibliothek geführt werden.
Nie hat der Bibliothekar zweimal denselben Wanderer gesehen, immer verirren sich die Besucher in die Bibliothek, kommen wie zufällig nach Tengor und finden dort ihre Geschichten, die Geschichten ihrer Familien, ihrer Fantasien, finden die Bilder, die sie schon lange vergessen haben.

 

 

Fragment 1 (Notiz): Je länger man in der Tengoreer Bibliothek zwischen den Regalen steht, desto deutlicher sieht man die leicht reflektierenden Aufschriften auf den Buchrücken. Sie bleiben unlesbar. Leise geht man entlang den hohen Regalen, zieht Bücher heraus und stellt sie wieder zurück, befühlt die Einbände, die Seiten, feuchte Blätter, die dickeren Seiten der Farbtafeln, betrachtet ovale Portraits hinter Kalkpapier. Halb blind prüft man die Buchrücken, vielleicht im Feuerschein eines Zündholzes. Ein langer Satz durchzieht alle Bücher vom Anfang bis zum Ende: Das A und das O: Ein Zauberwort. Abracadabra (siehe Abraxas: Herkunft unbekannt, Buchstabenwert = 365).

Fragment 2 (Notiz): Im erlöschenden Licht Buchrücken an Buchrücken ... Brennhart; Bokovna (hmm); Chikov (schöner Band: di nada e vin); Coe; Corrall; D'Abimur (kleine Gesamtausgabe); Divalcino; E. O'Pea (Pym fehlte); Groth; Homer; Jeuyss; Lairenev; Mérallma (zweisprachig); Müller (alles vorhanden); Nerve; Quenon (Exercises de Styles); Raboudu; Repec; Salinov; Sartre; Wittgenstein; Zorn (die Einzige) ...

 

 

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