Die Notizkarteien (1ff.): Eine Auswahl
von Franz Wenzel

 

 

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[2. Karte]
was folgt ist kein traum, perfekte irrealität. die hauptperson wird für die dauer der episode in einen andern, contrarealen zustand versetzt, schlagschatten der handelnden. leicht porige gesichter als folge der totalen ausleuchtung.

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[7. Karte]
«ha, ha, so geht das!» lachend vor mir selber spuckte emmer in den spiegel.

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[10. Karte]
«wo kommst du her?»
«tengor», sagte ich. «du?»
«von weit! wie heisst du?»
«sandel!»
«ich will hier durch, sandel!» sagte er.
ich trat zwei schritt zur seite, er bewegte sich nicht und hielt auch sein pferd beinahe unbeweglich am zügel. ich sah ihn an und machte mit dem rechten arm eine bewegung, zeigte den weg entlang. er bewegte sich nicht.
die flanken seines pferdes waren schweissnass. er trug einen colt und die übliche kleidung. er starrte mich an ohne mit den wimpern zu zucken. ich stand immer noch am rand der strasse, um ihn vorbei zu lassen. die luft stand still.
nach einer ewigkeit sagte er plötzlich: «ok, sandel», sagte er mit einer stimme, die die heisse stille platzen liess, «sag ihnen, dass du coon gesehen hast.»
er gab dem pferd die sporen und war bald in der staubwolke verschwunden, die sein pferd gallopierend aufwirbelte.

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[14. Karte]
M=R, e=m=m=e=r, emmeremmer, E M M A, verdammt, ruft sie durchs haus. ich höre sie, wie sie mir den namen variert: M=R, verdammte stimme. & ich liege auf dem bett, öffne das linke auge: sehe den steilen nasenberg rechts, öffne das rechte auge, sehe den steilen nasenberg links, & bee sucht mich; ruftbrüllt schreit[et] nach mir durch die vorderen zimmer: & ich bin hier versteckt.

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[16. Karte]
du kennst ja=wohll bee, fragte ich. er beJAh=te & ich fuhr fort: die gesagt hatte, ihre seele, IHRE seele spüre sie ganz deutlich unterhalb des herrzens! worauf ich sagdachte: tüppisch: die seele im bauch, wo sie doch… wo sie doch wass? fragte er. ja eben: im kopf sitzt, tode. und bee sagte: im zwerchfell.

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[17. Karte]
sie hielt den revolver auf ihn gerichtet, er bewegte sich nicht, sie bewegte sich noch weniger. eine ganze weile war nicht einmal atem im raum, bis er plötzlich theatralisch sagte: well - i think it's a goddamn peculier way to tell me that you love me! sie sprach den satz zu ende: sind ja wohl nicht im kino, latschi.

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[21. Karte]
weil der berockte mit der sense lacht, wenn ich schreibe
& höhnt, wenn ich sprachliches unwesen treibe,
weil er in der nacht heimlich meine schriften verbrennt,
- darum schreib ich mein testament.

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[25. Karte]*
ich war doch einigermassen überrascht, als ich nach der übernahme des hauses feststellte: dass man vergessen hatte ein zimmer auszuräumen. der raum war noch eingerichtet, verlassen, wie er gewesen war. auf dem grossen arbeitstisch lagen seine notizbücher, andere werke, skizzen und als ich einen der drei wandkästen öffnete, fielen mir eine unmenge baumnüsse entgegen.

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[27. Karte]
zeitunglesend m das bild eines protzsch oder ähnlich: mit bewachung zweier polizisten: der hat ja die hände wohl auch nicht frei=willig religiös gefalltet?!

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[35. Karte]
dann ging ich mit schnellen schritten zur schreibmaschine [wollte mir wohl selbst zuvorkommen]: setzte mich hin und hickhackte: Was ist Ihre Motivation, woraus beziehen Sie die Energie für Ihre Arbeit? korrigierte auch noch die höflichkeitsform in die frage von mir an mich rein, immer steif bleiben in solchen momenten, auch sich selbst gegenüber: las die frage nochmals: meine motivation? & lehnte mich zurück, hätte mir gern geantwortet, aber blieb mir die antwort schuldig.

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[38. Karte]
und sahn in unserer parade auch: wenn nicht gleich die affn=3, so doch den gmändshoppmann: mit den händen vor den augen: den mann mit dem hund [der ist wirklich taub] &, wie sag ichs bloss: die rose=marie [die rose: maria]: die sprach nie kein wort, vielleicht besser so, dafür hatte sie alle hände voll zu tun, wenn sie abends nochmals rausging. sagt wenigstens emmer.

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[39. Karte]
sassen zu 3en, dann zu 4t am tisch, jakob die schachtel mit den hölzchen: verteilte schon eine runde, ich schaute nur zu. er sagte an: & ging los. eine runde um eine runde. zweite runde: steinweg mit dabei, ich verlor, sag ich jetzt mal, mangels erfahrung: der eilige jakob kloppte die hölzer von unter dem tisch hervor zwischen die gläser, dass sie wackelten. ich sagte an: & verlor die zweite runde. steinweg bezahlte, ich hatte kein geltt im sack. soff aber auch schön mit. war ja schliesslich der verlierer.

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[52. Karte]
wer war wenzel: 'n alter chäromantiker. chastisch dazu.

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[54. Karte]
emmer sagt: das pure gegenteil von marcus am abendessen; fünfzehn oder mehr ist egal: ich liebe tragödien. wenn die menschen sich nicht ernst nehmen, nicht zu ernst nehmen, wird mir schlecht. ist es nicht, broad=key, zeit zu ahnen, dass nichts repariert werden kann?

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[56. Karte]
LUTTER LACHTE ALLER
die lutter mündet in die lachte, welche in die aller mündet.

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[57. Karte]
[...] neben mir im wasser lag eine seltsam kupfer=goldene sonne. ich war weiter querfeldein gegangen, immer lutterlang auf die schleuse und bargfeld zu.

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[58. Karte]
stand dort ein paar minuten mit dem schnucken=bock aug in auge: mensch, der ist ja noch sturer als ich!

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[59. Karte]
ganz klar: das war ehrensache, die paar schritt mit lutter zu gehen, auch wenn er nur immer still vor sich hinmurmelte. & ich selbstgespräche führte.

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[60. Karte]
unser verdammt sauberes helfetiefes mitteleuropa existiert gar nicht, na halt: allenfalls dort, wo sich die wörter BORDEAUX und MÜNCHEN auf der 10 mal 8 wetterkarte in der celleschen zeitung bei —1°C für die nacht treffen.

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[62. Karte]
schneefallgrenze gemäss neuesten trigonometrischen berechtigungen über den daumen gepeilter strahlensatz verhältnis gerechnete 0=grad=grense demgemäss: bei 400 m apö prä!

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[63. Karte]
grauer diesiger ach tober tag regen waagt recht: grauer hymmel hängt ins nasse bild. flut ende. buss sstopp—

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[65. Karte]
ha, das kann ich dir sagen: die nordischen sturmnächte erleb ich in meinem zimmer 1:1. schliesslich wohne ich gleich unter dem dach, hab also den regen mehr im als überm kopf und weil mein zimmer sowieso ein aufbau ist, geniesse ich auch den immer frisch zupackenden zangengriff des windes. ein scheusslicher kerl, nachts.

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[72. Karte]
der kutscher, volkssänger und kunstpfeifer josef bratfisch betrat das zimmer kurz nachdem loschek frisches wildbret & schampagner aufgetragen hatte.

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[75. Karte]
christentum - die list der christen / die stummen summen / in krisen / verschwistert & dumm

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[79. Karte]
P.S. die gier staerke/ haerte einer welthure

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[89. Karte]
am liebsten wäre ich in unerreichbarer, undurchdringbarer stille zu hause, auf einem flachen bergrücken, das nebelmeer (immer) unter mir, und vor allem: allein. ich würde es ins tal schreien: aaaaaaallaaaaaain! niemand, der mit mir sprechen will, niemand, der mir aus der welt berichtet, niemand.

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[106. Karte]
ich hielt ihnen verzweifelt das bild hin: «kennt ihr diese frau? kennt ihr sie? kennt ihr ihren namen? bitte», sagte ich, «ich muss ihren namen wissen!»

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[114. Karte]
bonjour, moi c'est ulla. si vous cherchez une femme, un homme, la liberté où l'amour, appelez 36 36 13 ou par minitel 36 36 ulla.

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[124. Karte]
er stand lange vor den regalen mit den kalendarien und notizbüchern und entschied sich doch zuletzt für einen billigen spiralgebundenen block etwa in der grösse einer postkarte; an der kasse liess er sich einen bleistift geben.
als er wenig später in einer imbissbar vor einem glas bier sass, schrieb er mit grosser sorgfalt und überlegte lange, ob man das so schreiben konnte mit grosser sorgfalt. er strich die zeile und klappte den block zu. ein mann verschwindet.
so beginnt diese geschichte.

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[130. Karte]*
«ausserdem schlafen nur die dummen, den andern lässt es der kopf nicht zu.»

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[141. Karte]
ich hätte ja von mir aus nichts gesagt, aber man macht mir das zum vorwurf, wenn ich mir am fernseher spiele ansehe, oder auch auf dem sportplatz unten, wenn ich selbst spiele, dass ich nicht unterscheiden könne zwischen pflichbewusstem erfüllen eines spieles und einem wirklich gut gespielten spiel, wobei es sich bei einem wirklich guten spiel offenbar um etwas besseres handelt, wahrscheinlich um eine art engangierteres spielen.

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[146. Karte]*
«abèr wirklisch, so etwas primitifés zu sagen, haidelbèrque!»

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[154. Karte]*
er rief mit krächzender stimme: «ich habe es dir gesagt, du kannst alles zurückhaben, (wenn du dich erinnerst): deine putzfrau, deinen doppelgänger und deinen kief [keith?].»

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[156. Karte]
das wort: nichts anderes als luftmengen auf mehr oder weniger gespannte stimmritze. alles bloss phrase, ingold.

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[176. Karte]
nach pollen, rief ich, niemmalls nach pollen, wo die pruzzen hinterlagern.
[und rufe jetzt: nichtmals nach gallien, allwo die grausen provenzahlen schlächten und schmausen.]

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[181. Karte]
der gratis-faktor bedeute:/ die katastrofe der geburt.

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[188. Karte]
« ... und dann hat der herrgott meine eltern heimgeholt, so wie der bauer im herbst die feldfrüchte heimholt, ganz gleich ob das jetzt korn ist, oder äpfel, rüben oder kartoffeln.»

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[189. Karte]
der fliehende bacchus, welcher ich selber bin, in weissem lendenschurz, mit weisser haut, dickem bauch, also dieser bacchus verheddert sich im gebüsch, als er vor der aufgebrachten gesellschaft fliehen will.

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[196. Karte]
Leute haben uns erzählt, dass der Knabe unten auf der Unfallstelle gestorben sei. Und das in einer Gegend, wo man weiss, dass die Leute naturgemäss eher an Wortkargheit sterben.

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[207. Karte]
immer wieder dieselben geschlichten. geschlichten, dasselbe geschlachte.

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[212. Karte]
er fragt sie, ob sie ihn denn liebe, ahnt die antwort schon und sagt gütig: «Euer Wille hat mich gewählt, Euer Herz gehört ihm.» sie ahnt die wahrheit ebenfalls und antwortet: «Dann habt ihr den besseren Teil: Mein Wille ist stärker als mein Herz.»

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[213. Karte]
«Könnte ich doch wie Heine schreiben, ich hätte den Cervantes, gleich nach dem geistigen Erwerb der Buchstaben, in einem Mai im sonnigen Hofgarten gelesen, im blühenden Frühling zur schmeichelnden Stimme der Schalmei; Frühling (und auch Mai) ist es zwar gewesen, als ich mich mit dem Cervantes hinsetzte, aber der Verkehrslärm und ab und zu ein Militärjet, übertönten die lauschige Idylle, die ich mir zumindest im Kopf geschaffen hatte.»

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[218. Karte]

Der Tip von Dioklea: «Das sicherste Mittel dich vor den Blendwerken der Einbildung zu bewahren, ist, ihrer Geschäftigkeit Einhalt zu tun und dich gänzlich den Gefühlen deines Herzens zu überlassen.»
Christoph M. Wieland, Peregrinus Proteus
mein gott, was sind das, die gefühle des herrzens? und wie kann man sich ihnen überlassen (wollen)?

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[219. Karte]
man kann, wenn man einen freistoss schnell ausführt, und gerade an einer weltmeisterschaft, die ganze verteidigung blossstellen.

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[226. Karte]
das mädchen mit dem hund, der knabe mit der rakete, eine elegie

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[232. Karte]
«Ich schrie ihn an, ich hatte die Nerven verloren, obwohl ich es war, der alle Macht hatte. Er konnte gar nichts machen, er hatte nicht die geringste Chance gegen mich. Ich konnte, wenn ich wollte, schreiben, dass er zum Beispiel wegging und nicht mehr zurückkam, wenn nicht gar starb. Ich hatte ihn soweit in der Hand, dass ich sogar präzise beschreiben konnte, wie er starb. Dadurch, dass ich ihn erfunden hatte, hatte ich ihn voll und ganz in der Hand. Er schrie zurück und wollte auf mich losgehen. Er hatte seine Lage ganz und gar nicht erkannt, der Arsch.»

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[254. Karte]
... erzählte sie mir von iokter sandel, von dem sie sagt, er sei ein arroganter sack gewesen. sie sagt auch: «der hat nur ständig saublöde witze gemacht.» oder: «der war so unglaublich von sich eigenommen, dass es schon wieder bescheiden war.» oder sie sagte: «da traust du deinen ohren nicht, dieser zynische biss, dieses dialektische denken, wahnsinn.»

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[261. Karte]
«Hallo, ich bin Renate, eine von den Frauen, denen das Backen Freude macht.»

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[262. Karte]
ich kanns nicht leiden, kanns nicht lassen / kanns nicht heiden, kanns nicht hassen. nebenbei nur: wie sie sagt: mein gott, diese armen heidenkinder. und meint bloss, dass sie nicht römisch-katholisch oder pseudo-protestantisch sind.

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[263. Karte]
... dass im falle er wirrklichst galimathias reden sollte, wie er mir versicherte, auch der scotchterrier paul (im zustand unmittelbarer erregtheit) zum einsatz kommen sollte.

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[264. Karte]
die menschlichen feinde / ein improvisiertes drama in 5 akten / mit einem vor- und einem zwischenspiel / nebst einer klammer nach der pause nach dem dritten akt.

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[266. Karte]
die grösste hauptqual / ...liebliches schweigen auferlegt / französische emigranten, deutsche jakobiner, gelehrte, schriftsteller / der teutone trug keine stiefelstrümpfe, als er noch frei war / sie ersticht sich am rheinufer / ...heiratet sie den *, aus der angst überflüssig zu werden / lieber tot als hörig sein

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[275. Karte]
Namen von Speisen und Namen von Dichtern gehen mir besser über die Lippen als andere Wörter.

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[280. Karte]*
«Also, das hat nun eigentlich gar nichts mit der Sache zu tun. Man hat mir geraten doch mit den Socken zu spielen und ich habe tatsächlich noch ein Saar Socken aus dem Gepäck hervorgeholt. Man hat mir versprochen, dass mir der Säckelmeister nachher noch die Schuhe blunzt. Was er auch tut. Hervorragendes Gefühl, in geblunzten Schuhen zu gehen.»

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[281. Karte]
«Hör mal, was soll ich tun? Soll ich vielleicht einen Typen wie Walter (th) Grob beschreiben, einen, der Werkzeuge im Bastelraum der Grösse nach und flächendeckend auf einem Lochpavatex an die Wand hängt?»

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[287. Karte]
«Was wenn diese verreckten Säue wieder durch den Garten seckeln?» Fragen über Fragen.

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