Franz Wenzels Notizkonvolute - eine Übersicht
von Justus Pless

 

 

Lassen sie es mich so sagen: Wenzels Werk zerfällt in Fragmente. Obwohl in diesem schmalen Werk ein strenger Wille zur Form ablesbar ist, zerfällt Wenzels Werk in Fragmente. Hier geht es deshalb nicht um das an sich Fragmentarische, vielmehr haben wir es mit einem Werk in Einzelteilen zu tun, das sozusagen noch nicht zusammengebaut worden ist. Wie wir aus verschiedenen Andeutungen und Notizen wissen, hat Wenzel sich mit genau diesem Akt des Vollzugs seiner Ideen schwer getan. Er schreibt in seinen Notizen zum Beispiel. Ich zitiere: «... das ist ja auch eine Schwierigkeit: Beim Denken habe ich einen grosszügigen Textbogen vor Augen, einen ganzen Abschnitt, und dann verliere ich mich mittendrin, mit den Zeigefinger auf der K-Taste sitze ich da und denke an einem Wort herum und komme von dem Wort nicht weg, beginne auch schon die Beziehung zum Ganzen zu verlieren und bleibe schliesslich stecken, pedantisch auf eine Einzelheit versessen und hatte doch so grosszügig den ganzen Abschnitt im Sinn.» [Wenzel, NK040] Dieses Unvermögen ist vor allem daran schlüssig abzulesen, dass wir die Fragmente aus den Notizkonvoluten zum Teil in den Texten wiederfinden: Wenzel hat versucht sie zu kohärentem Textwerk zu verarbeiten. Die Theorie, dass Wenzel ein grosser Sampler, ein Monteur, gewesen sei, kann mindestens auf der Grundlage dieser Notizkonvolute nicht erbracht werden. Vielmehr stellen diese Sammlungen eigentliche Zettelkästen dar. Diesen Ansatz zu verfolgen, dürfte uns wesentlich weiter bringen. «Als technische Hilfsmittel zur literarischen Bildung sind die Zettelkästen, wie sie früher genannt wurden, seit dem 15. Jahrhundert in Gebrauch. Sie wurden in der akademischen Ausbildung, die zu der Zeit noch stark der Mündlichkeit verhaftet war, vor allem zum Sammeln von Merksätzen und Beispielen genutzt.» (Günthart, Zürich 1993) Genau dies ist der Ansatz der Wenzelschen Notizsammlungen. Wenzel hat sich mit seinen Notizen jene Zettel zur Verfügung gehalten, die er in seine Erzählungen, Romane vielleicht und Theaterstücke, eingearbeitet hätte. Dass er nicht mehr dazu gekommen ist, wissen wir. Wenn Zettelkästen auch vor allem der Herstellung von Wörterbüchern dienten, wie Günthart anmerkt, so sind doch, von Jean Paul bis Arno Schmidt, genügend Beispiele bekannt, wo der Zettelkasten in der Literatur, fast möchte man sagen, nicht nur als Hilfsmittel, sondern als Ausdruck eines eigentlichen Schreibsystems, Verwendung gefunden hat.
Das Grimmsche Wörterbuch definiert unter dem Stichwort «verzetteln» den Vorgang des Auflösens und Ordnens: «etwas inhaltlich zusammengehöriges in einzelzettel auflösen und in form einer kartei zusammenstellen und ordnen.» Und weiter: «beobachtungen, erkenntnisse auf zetteln festhalten.» Wir sehen also, dass dieses Anlegen von Zetteln, wie es Wenzel getan hat, obwohl er die Zettel nurmehr so nannte, und sie in Tat und Wahrheit in einer Textdatei auf dem Computer gespeichert hatte, einer gleichsam konstruktiven Methode verhaftet war und nicht, wie fälschlich beschrieben worden ist, einer dekonstruktiven, die das Fragment in den Mittelpunkt des Schaffens stellt. Obwohl, und hier muss ich mir selbst widersprechen, dieser Ansatz in der Arbeit Wenzels durchaus vorhanden ist, wie sein respektloser Umgang mit Fremdzitaten und -ideen überdeutlich zeigt. Doch haben wir es hier vielmehr mit einer Art assoziativem Sampling zu tun, wie Dürr (in dieser Publikation) schlüssig zeigt.

In einem Punkt muss jedoch noch vertieft auf den Begriff des Fragmentarischen eingegangen werden. Denn schlussendlich kommt dem einzelnen Zettel als dem Teil eines Zettelkastens, mehr Gewicht zu, als es obige Ausführungen erahnen lassen könnten. Die Notiz, das Exzerpt auf dem isolierten Zettel, birgt das Potential des Ganzen in sich. Dieser Umstand lässt es als Wert erscheinen, in die Textur der entstehenden Erzählung eingearbeitet zu werden. Ausserdem stellt Janz (Linz 1996) ergänzend fest, dass das Fragment per se am Anfang von etwas explizit Neuem steht. Sie schreibt dazu: «Wir reden in Fragmenten, dichten, rechnen, spielen, kaufen sie, und dennoch ist das Fragment nicht mehr als ein einzelner, kleiner, möglicher Start- oder Standpunkt, von dem aus das Denken, Tun, Schlafen und Erfinden seinen Anfang nehmen kann. [...] Das Fragment darf nicht als Rest verstanden werden. Denn jeder Rest orientiert sich auf seine einstige Komplettheit zurück. [...]» Und weiter unten beschreibt sie das Fragment als potentiellen Ausgangspunkt jedweder schriftlichen Äusserung: «Das Fragment könnte Aussichtsort einer Haltung sein, von der aus die Welt beobachtbar ist. [...] Das Fragmentarische ist der Speicher aller möglichen Anfänge. Die Erinnerung, der Traum, jede schöpferischen Seins und Tuns nähren sich am Fragmentarischen.»

Gerade mit dieser Bemerkung schlägt Janz eine Brücke zurück zu Franz Wenzel. Denn seine Notizen erschöpfen sich nicht im Sammeln von memorierten und reflektierten Notaten. Vielmehr geht er weiter und notiert und exzerpiert gefundenes und vor allem geträumtes. In der Tat sind die Traumkarteien die umfangreichste seiner Notizsammlungen geworden. Hundert Träume datieren allein schon aus der Tengoreer Zeit, weitere siebenundsechzig aus den vier Jahren in Spanien. Wie Wenzel gegenüber Steinweg einmal geäussert haben muss, trieb ihn vor allem die Faszination einer «automatischen nächtlichen Textproduktion» dazu, alle seine Träume zu notieren. Die Tatsache, dass das «Gehirn nachts weiterarbeitet und allerlei seltsame und verworrene, verwirrende und schonungslos abstruse Geschichte zu erzählen imstande sei» mache es notwendig, «aller Träume habhaft zu werden» und ihnen, eben indem man sie aufschreibe, ein Denkmal zu setzen. Er soll auch, wahrhaft hellsichtig, gesagt haben: «Keine einzige solche Geschichte, keinen einzigen, auch noch so knappen solchen Text kann ich frei und selbständig und in einer ähnlich zwingenden und vielleicht bizarren [Stringenz] selbst verfassen.» (Wenzel, NK289)
Diese intensive Beschäftigung Wenzels mit der eigenen Traumproduktion führt uns direkt zum letzten Punkt. So wie Träume Wenzels Aufmerksamkeit nicht nur erregten, sondern gleichsam ergriffen, so versuchte Wenzel selber, tagträumend gewissermassen, die Welt zu ergreifen. In immer neuen Notizen muss er versucht haben, diese Welt, durchaus bewusst subjektiv, dingfest zu machen und anzuhalten. Hier erarbeitet Wenzel sich einen interessanten neuen Aspekt des Fragmentarischen. Schon in Spanien, vermutlich am Anfang seiner letzten Reise, eben aus Toboso aufgebrochen, schreibt er, Bezug auf einen Text von Schrott (Graz 1997) nehmend: «... schreibt Schrott ja davon, aber im Zusammenhang mit der Literatur allgemein, ich würde das auf die Sprache im Speziellen fokussieren: «Hinzu kommt, dass ja auch Sprache für mich immer ein Weg war, sich Welt anzueignen, und nicht nur das Wissen um die Welt...» Das ist es und nicht so: Mit der Sprache die Welt bewältigen und zu erklären suchen, weil das ja nicht geht (und letztlich wohl auch unmöglich ist). Was aber geht, ist das stückweise und beharrliche Arbeiten an und mit der Sprache und das stückweise und beharrliche sich Aneignen dieser Welt, die es zu verstehen gilt, die wir aber nie ganz verstehen können werden, weil wir immer an den Einzelteilen, an den Einzelheiten arbeiten.» (Wenzel, NK290)

Wir sind nun, nachdem Wenzel aus Spanien nicht mehr zurückgekehrt ist, versucht zu sagen, dass diese seine Notizkonvolute, seine Fragmentsammlungen, sein Hauptwerk, auch seinen Niedergang spiegeln. Wir haben zum Anfang vom konstruktiven Aspekt von Wenzels Schaffen gesprochen. Hier nun trifft er sich aufs fatalste mit einem dekonstruktiven, zersetzt nicht nur die Welt in die Einzelteile, sondern auch den Menschen, der darin lebt.
Wenzel selbst hat sich, vor allem in seiner Korrespondenz mit seinem Freund David Steinweg, immer aufs Neue mit pseudonymen Namen benannt. Nirgends als in diesem letzten Abschnitt, der aus der Korrespondenz zu «Die menschlichen Feinde» stammt, zeigt sich dieser Zerfall von Wenzels Selbstverständnis besser. Man hat dies nicht wahrhaben wollen, doch spricht dieser Abschnitt deutliche Worte: «Jetzt wo also alles klar ist, oder gar nichts, begibt sich der Autor, welchen die Literaturgeschichte Francisco Wences alias Jean Pignon alias Positas Adrian alias Wenzel Franz nennen und vergessen wird, hinüber in die Dichterklause und schreibt und schreibt. Es ist das Schicksal der Dichtherrn, dass sie grosse abstruse Dramen und Geschichten für die Wellt entwerfen, dass sie in ebensolche verwickelt und verstrickt sind und dann vergessen werden. Aus der Literaturgeschichte sind vielherr solchherr Fälle bekannt. Eben desshalb schreiben wir, bevor wir unsere Schriften verbrennen und glücklich sterben.»

Tengor, im November 1999

 

Editorische Notiz:
Der obige Text ist die Transkription eines Gespräches, das der Herausgeber mit Justus Pless im November 1999 in Tengor geführt hat. Der Autor hat den Gesprächstext für diese Ausgabe durchgesehen, leicht überarbeitet und stark gekürzt.