Franz Halter: Tengor - Ein Stadtrundgang

 

Die Burganlage von Tengor (von Süden her gesehen), die ehemalige Residenz der Vögte von Tengor, beherbergt gegenwärtig das Historische Museum

 

Tengor wird 1122 zum ersten Male als tenor gongri (Zug der Aale) urkundlich erwähnt und gelangte zu Ende des 12. Jahrhunderts an die erblichen Reichsvögte von Dawen. 1466 fiel es an die seltische Herrschaft. Nachdem es 1547 durch den bergischen Krieg als zellisches Lehen an den Burggrafen von Merssen kam, gelangte es 1569 unter die Herrschaft von Sankt Georg.

Der Ankommende ahnt es kaum, dass er sich in einer Industriestadt befindet, wenn er die Räume des Oberen Bahnhofes verlässt und sich der breiten Bahnhofstrasse, auf der die Wagen der elektrischen Strassenbahn dahinfahren, mit ihren ansehnlichen und prächtigen Gebäuden zuwendet. Die Bahnhofstrasse macht hier auf den Fremden einen entschieden grossstädtischen Eindruck. Gleich neben dem vornehmen Hotel Scharner Hof erhebt sich der die gegenwärtige Bedeutung Tengors so würdig repräsentierende Prachtbau der Kunstschule mit dem Museum für Textilindustrie im Erdgeschoss, das einen interessanten Einblick in die Leistungsfähigkeit der tengoreeischen Textilindustrie gewährt. Die Kunstschule ist aus der im Jahre 1877 begründeten kunstgewerblichen Fachzeichenschule hervorgegangen und 1891 als Staatsanstalt eröffnet worden. Verfolgen wir die mit zwei Lindenreihen geschmückte Clemensstrasse zur Linken, so gelangen wir an die umfangreichen grossartigen Baulichkeiten des Schlachthofes.

Etwas weiter nach der Stadt zu liegt an der Bahnhofstrasse zur Rechten, der mit gärtnerischen Schmuck reichlich ausgestaltete Asperplatz, mit der in der Mitte befindlichen Siegessäule und dem Standbild des Fürsten Titus II. und des ersten Grafen von Starbach-Weidfelde, die so für ihre Verdienste um Tengor gewürdigt wurden. Gegenüber der Ecke Bahnhofstrasse und Johannstrasse befindet sich das grosse neue Geschäftshaus der Neuen Zeitung Tengor. Wo die Bahnhofstrasse in ihrem weiteren Verlauf eine Biegung nach rechts macht, führt die zur Linken abgehende Bergerstrasse zu Tengors schönster Kirche, der Kirche zur heiligen Jungfrau Maria, von 1895-1897 im gotischen Stile erbaut und mit einem 72 Meter hohen Turm geschmückt, sowie zu den Gebäuden der Nationalbank mit der Freimaurerloge.

Geht man weiter die Bahnhofstrasse hinab, so winken uns links die im Neubau des Herrn Albert Berger eingerichteten Weinstuben. Am Fusse der Bahnhofstrasse trifft man rechts auf das Hauptpostgebäude und das Telegraphenamt, von der beim Postamt in die Bahnhofstrasse einmündenden Nationalstrasse winkt der stattliche Sandsteinbau des neuen Geschäftshauses der Tengoreer Bank, davor das Denkmal des zellischen Dichters Anton von Merssen. Eine grossartige Zierde der unteren Bahnhofstrasse bildet der Neubau des Cafe Zentral mit seinen grossstädtischen ausgestatteten Lokalitäten, die den Hauptanziehungspunkt vieler Fremder bilden. Von diesem gelangt man mit wenigen Schritten zum Stadttheater, das im Jahre 1898 seinem Zwecke übergeben wurde. Gegenüber dem Stadttheater befindet sich das neue Steueramt. Der altertümliche Nonnenturm am Tunnel erinnert noch an das mittelalterliche Tengor mit seiner Befestigung.

Auf dem gegenüberliegenden steilen Ufer der Mondach steht die Burganlage von Tengor, die ehemalige Residenz der Vögte von Tengor, in dem sich gegenwärtig das Historische Museum befindet. Vom Tunnel aus gelangen wir über den als Obstmarkt dienenden Klostermarkt zum Altmarkt mit den interessanten altertümlichen Rathaus und dem prächtigen Ritterdenkmal. Kunstgeschichtlich wertvoll ist die dem Altmarkt zugekehrte Hauptfront des Rathauses. Daran befindet sich eine künstliche Uhr mit mehreren Zifferblättern und Figuren. An der oberen Uhr stehen zwei menschliche Figuren, die im Stundenschlag die Hände bewegen und den Mund öffnen. Über der Uhr befindet sich eine Kugel, welche den Mondwechsel anzeigt. Die Löwen schlagen auf der zwischen ihnen befindlichen Glocke die Viertelstunden. Auch die Sonnenuhr befindet sich mit an dieser Giebelseite. Vom Altmarkt führt die Kirchgasse zur altertümlich ehrwürdigen Häupterkirche mit den beiden massigen Türmen, im Jahre 1556 vollendet. Durch das Kantoreigässchen geht es auf den Topfenmarkt und weiter nach dem alten Teich mit dem jetzt zur Mälzerei benützten alten Schloss, einem der ältesten Gebäude Tengors.

Gehen wir wieder zum Altmarkt zurück, so gelangen wir durch die Marktstrasse nach der Lutherkirche sowie dem Lutherhaus und vorbei zur Pleissner Strasse, an deren äusserem Teil der stattliche, erst vor sechs Jahren eingeweihte Bau des Lehrerinnenseminars sich erhebt. Diesem gegenüber befindet sich das neue Gebäude der Stadtverwaltung, ungefähr 10 Minuten weiter hinter dem Bahnübergang der Linie Tengor-Egerstadt beginnt ein vollständig neu entstandener und noch im werden befindlicher Stadtteil mit einer imposanten Kasernenanlage, in welcher seit 1903 das Infantrieregiment No. 111 garnisoniert. Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges hat Tengor in dem Mondachtalviadukt. Derselbe hat einen einzigen Bogen von 90 m Spannweite, ist somit die zur Zeit weitgespannteste Massivbrücke der Welt und wurde am 1905 in Anwesenheit des letzten Fürsten Titus IV. geweiht.

 

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