-

 

Reisetagebücher

Von Franz Kafka

 

Reise September 1913

 

am 10. Sept. 1913

Zwischen den Säulen der Vorhalle des Parlamentes. Warte auf meinen Direktor. Grosser Regen. Vor mir Athene Parthenos mit Goldhelm.

6./IX (1913) Fahrt nach Wien. Dummes Litteraturgeschwätz mit Pick. Ziemlicher Widerwillen. So (wie P.) hängt man an der Kugel der Litteratur und kann nicht los, weil man die Fingernägel hineingebohrt hat, im übrigen aber ist man ein freier Mann und zappelt mit den Beinen zum Erbarmen. Seine Nasenblaskunststücke. Er tyrannisiert mich, indem er behauptet, ich tyrannisiere ihn. ­ Der Beobachter in der Ecke. ­ Bahnhof Heiligenstadt, leer mit leeren Zügen. In der Ferne sucht ein Mann den plakatierten Fahrplan ab. (Jetzt sitze ich auf der Stufe der Herme eines Teophil Hansen) Gebeugt, im Mantel, das Gesicht vergeht gegen das gelbe Plakat gehalten. Vorbeifahren an einem kleinen Terassengasthaus. Gehobener Arm eines Gastes. Wien. Dumme Unsicherheiten, die ich schliesslich alle respektiere. Hotel Matschakerhof. 2 Zimmer mit einem Zugang. Wähle das Vordere. Unerträgliche Wirtschaft. Muss mit P. noch auf die Gasse. Laufe angeblich zu sehr, laufe noch stärker. Windige Luft. Erkenne alles Vergessene wieder. Schlechter Schlaf. Voll Sorgen. Ein widerlicher Traum (Malek). (Die Frage des Tagebuches ist gleichzeitig die Frage des Ganzen, enthält alle Unmöglichkeiten des Ganzen. In der Eisenbahn überlegte ich es unter dem Gespräch mit P. Es ist unmöglich, alles zu sagen und es ist unmöglich, nicht alles zu sagen. Unmöglich die Freiheit zu bewahren, unmöglich sie nicht zu bewahren. Unmöglich das einzig mögliche Leben zu führen, nämlich beisammen leben, jeder frei, jeder für sich, weder äusserlich noch wirklich verheiratet sein, nur beisammen sein und damit den letzten möglichen Schritt ber Männerfreundschaft hinaus getan haben, ganz knapp an die mir gesetzte Grenze, wo sich schon der Fuss aufrichtet. Aber auch das ist eben unmöglich. Letzte Woche fiel mir das einmal vormittag als Ausweg ein, ich wollte es nachmittag schreiben. Nachmittag bekam ich eine Biographie Grillparzers. Er hat das getan, gerade das. (Eben betrachtet ein Herr den Theophil Hansen, ich sitze wie seine Klio) Aber wie unerträglich, sündhaft, widerlich war dieses Leben und doch gerade noch so, wie ich es vielleicht unter grössern Leiden, als er, denn ich bin viel schwächer in manchem, zustandebrächte. (Später noch darauf zurückkommen ­ Traum) Abend noch Lise Weltsch getroffen.

7/IX (1913) Widerwillen vor P. Ein sehr braver Mensch im Ganzen. Hat immer eine kleine unangenehme Lücke in seinem Wesen gehabt und gerade aus dieser kriecht er, wenn man jetzt dauernd zuschaut, in seiner Gänze heraus.

Früh im Parlament. Vorher im Residenzkafe Eintrittskarten zum Zionistenkongress von Lise W. geholt. Zu Ehrenstein gefahren. Ottakring. Mit seinen Gedichten weiss ich nicht viel anzufangen. (Ich bin sehr unruhig und infolgedessen auch ein wenig unwahr und das, weil ich dieses nicht für mich allein schreibe) In der Thalisia mit beiden. Mit ihnen und Lise W. im Prater. Mitleid und Langweile. Sie kommt nach Berlin ins zionistische Büreau. Klagt über die Sentimentalität ihrer Familie, windet sich doch nur wie eine festgenagelte Schlange. Ihr ist nicht zu helfen. Mitgefühl mit solchen Mädchen (auf irgendeinem Umweg über mich) ist vielleicht mein stärkstes sociales Gefühl. Photographieren, Schiessen, «Ein Tag im Urwalde» Caroussel (wie sie hilflos oben sitzt, das sich bauschende Kleid, gut gemacht, elend getragen).

Mit ihrem Vater im Praterkaffee. Gondelteich. Unaufhörliche Kopfschmerzen. Die W. gehn zu Monna Vanna. Liege 10 Stunden im Bette, schlafe 5. Verzicht auf die Teaterkarte.

8. (September 1913) Zionistischer Kongress. Der Typus kleiner runder Köpfe, fester Wangen. Der Arbeiterdelegierte aus Palästina, ewiges Geschrei. Tochter Herzls. Der frühere Gymnasialdirektor von Jaffa. Aufrecht auf einer Treppenstufe, verwischter Bart, bewegter Rock. Ergebnislose deutsche Reden, viel hebräisch, Hauptarbeit in den kleinen Sitzungen. Lise W. lässt sich vom Ganzen nur mitschleppen, ohne dabei zu sein, wirft Papierkügelchen in den Saal, trostlos. Frau Thein.

 

 

Die Reisetagebücher von Franz Kafka sind als Teil der Tagebücher im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main erschienen und im August 2002 als Teil der URLAUBs_bibliothek auf URLAUB_online (http://www.wortwerk.ch/urlaub).
Alle Rechte beim S. Fischer Verlag.

 

 

Seitenanfang | zurück

-