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VERREISEN
Sind wir bald da?

Von Henning Sussebach

 

Leider beginnt der Urlaub meist mit einer Autofahrt. Ein Rückbank-Rückblick für alle, die vergessen haben, dass sie auch mal hinten sassen.

 

Unser Auto ist gepackt und steht im Licht der Laterne. Es ist mitten in der Nacht, ich bin müde, aber meine Eltern haben gesagt: «Wir müssen im Dunklen aufstehen, um noch im Hellen anzukommen.» Ich habe das beim Wecken nicht ganz verstanden, wir könnten doch auch im Hellen aufstehen und im Dunklen ankommen, oder? Allerdings scheint gerade keine Zeit für Fragen zu sein. Eigentlich für überhaupt kein Geräusch.

«Pssst, knallt die Türen nicht so, ihr weckt noch die Nachbarn!»

Die Reihenhaussiedlung schläft, nur ein paar Vögel sind schon wach. Und wir. Wenn auch nicht richtig. Mit roten Augen, Tränensäcken schwer wie Hängematten, und Baumwollbeuteln in den Händen schleichen wir aus unserem Haus: mein Vater, mürrisch vom frühen Aufstehen, meine Mutter, verschreckt durch den mürrischen Vater, meine Schwester und ich. Wenn uns jemand durch den Vorgarten huschen sieht, wird er denken, wir seien Einbrecher. Oder Flüchtlinge. Dabei fahren wir in den Urlaub. Das ist ja das Problem.

Unser Auto riecht an diesem Morgen sehr nach Auto, ich kann das nicht anders beschreiben. Jedenfalls riecht Auto nicht gut.

«Haben wir die Personalausweise?»

«Moment, ich guck noch mal ... ja.»

«Ist die Haustür abgeschlossen? Sind alle Fenster zu? Muss jemand noch mal? Nein?»

«Nein.»

«Dann gute Fahrt.»

Es könnte sein, dass ich doch muss, aber ich sage: «Ja, gute Fahrt.»

Gute Fahrt. Für mich sind das zwei Wörter, die sich widersprechen. Gute Fahrt! Das klingt wie ein Fluch, wie schöne Scheisse. Eine Fahrt ist nichts Gutes. Nur etwas Langes.

Etwas sehr Langes sogar. Das hat schon der Klang der Namen verraten, die ich seit Tagen höre. Meine Eltern wollen nach Ampuriabrava. An die Costa Brava. Unsere Autobahnauffahrt heisst Bochum-Querenburg. Da ist ja wohl klar: Von Querenburg bis Ampuriabrava, das wird dauern. Denn nach Bochum-Querenburg kommt erst mal Witten-Heven, dann kommt Sprockhövel, und dann frage ich:

«Wie lange noch?»

Wahrscheinlich rollen meine Eltern vorn im Auto die Augen, aber ich weiss es nicht, denn erstens ist es immer noch dunkel, und zweitens sehe ich sie nur von hinten. Ich höre bloss ihre Stimmen. Und die Verkehrshinweise und die Nachrichten. Sie beginnen mal wieder mit einer Meldung aus Bonn. Ich werde aufpassen, für wie viele Stunden sie sich oben hält.

Und ich nehme mir vor, bis zu den nächsten Nachrichten die Leuchtdioden unseres Radios anzuschauen. Die gelbe Tachonadel ist für einige Zeit auch ganz spannend. Als ich auch den Drehzahlmesser und die Uhr angestarrt habe, steht der Zeiger auf fünf nach.

So beginnt ein langer Tag. Minuten werden sich zu Stunden ziehen. Der Geschmack vieler Kaugummis wird auf der Strecke bleiben. Wir werden eine Weile weder hier noch dort sein, alles löst sich auf - obwohl: Bei uns im Auto bildet sich schnell eine feste Ordnung. Papa hat das Sagen wie sonst nur beim Grillen. Papa fährt als Erster (und fährt auch als Letzter). Mama verteilt das Essen, das in der Kühltasche neben ihren Füssen steht. Und meine Schwester und ich? Entweder wir müssen was, oder wir wollen was. Wollen spielen. Müssen Pipi. Wollen essen. Müssen wieder Pipi. Wollen trinken. Müssen noch mal Pipi. Wollen endlich da sein. Müssen kotzen. Nach einer Stunde, wir sind auf der Sauerlandlinie, vermittelt meine Mutter bis zur Halsstarre zwischen den Wünschen hinten (Bonbons!) und den Wünschen vorne (Nicht so laut!).

Draussen regnet es. Der Wind drückt die Tropfen über die Scheibe. Erstaunlich langsam ziehen sie nach hinten, vereinen sich, um dann mit einem Ruck zu beschleunigen. Tropfen 5 gewinnt nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen gegen Tropfen 1. Tropfen 2 wird Letzter. Schweigend sitze ich hinten, und mit mir sitzen da: meine Schwester, mein Bettzeug, meine Jacke, meine Schuhe und - spätestens ab Frankfurt, nach der kurzen Ablenkung durch den Sonnenaufgang zwischen Wolkenfetzen - endgültig auch meine Langeweile.

«Wie lange noch?»

Von vorn kommt nur eine vage Antwort. In den Nachrichten führt immer noch die Meldung aus Bonn. Hinten verzweifeltes Lesen. Erst Nummernschilder. BO-ZW 499. OE-CN 347. K-EP 32. F-AF 658. Dann die Namen auf flatternden Lkw-Planen: Schenker. Stinnes. Linde. Schon wieder Schenker. Long Vehicle. Frau Antje aus Holland. Wir überholen Wohnwagen und Laster, ich sehe die grossen Reifen, die das Regenwasser auf der Strasse zu Nebel zermahlen, glotzende Auspufflöcher, die dicken Oberarme der Lkw-Fahrer hoch oben hinter den Fenstern, Tätowierungen. Winken. Rentnersilhouetten auf Autobahnbrücken. Noch mal Winken. Dieses Mal gewinnt Tropfen 3. Dann starte ich den Opel - VW-Wettkampf: Kadett- und Golf-Zählen.

1 : 0 für Golf. Immer derselbe Ärger.

Wir fahren Opel.

2 : 0 für Golf.

3 : 0 für Golf.

Ich überlege, ob nicht alle gelangweilten Kinder die Verkehrszählung übernehmen könnten.

Ein Kadett! 3 : 1.

Bei 23 : 19 mache ich eine Pause. Ich lege meinen Arm auf die Armlehne. Aus den Poren des beigefarbenen Kunstleders werden Wüstentäler, Afrika ist in unserem Ascona. Ich lege den Kopf zurück. Gleich werden sich die schwarzen Punkte aus der weissen Deckenverkleidung lösen. Ich muss nur schielen, dann kommen sie mir entgegen.

«Wie lange noch?»

Ich versuche, nicht an die Rückfahrt zu denken.

24 : 19 für Golf.

Ich sehe was, was du nicht siehst. Papas Nacken. Mamas Leberfleck auf der rechten Schulter. Papas Stirn im Rückspiegel. Sekurit.

«Seku... was?»

Den kleinen schwarzen Firmenstempel in der linken Ecke meines Fensters. Sekurit steht da und GM und lange Zahlen, 0045865104 ZGBR oder so. Ich sehe das nicht zum ersten Mal. Ich habe durch Sekurit hindurch die Hochhäuser von Frankfurt gesehen, die Berge des Schwarzwaldes, die Hopfenfelder in der Holledau, die Bäuche von Grenzbeamten und die seltsam fremden Farben der Autobahnschilder in anderen Ländern.

Wir sind kurz vor Mühlhausen. Meine Eltern sagen, gleich komme Frankreich, und das nächste Land sei dann schon Spanien. Die Sonne scheint. Meine Eltern haben die Lufthoheit. Es riecht nach Kaffee und hartgekochten Eiern. Eben, auf dem Parkplatz, haben sie den Plastikdeckel der Thermoskanne auf dem Autodach vergessen und sind losgefahren. Das war lustig.

143 : 107 für Golf.

Nee, Mist, verzählt. Noch mal.

1 : 0 für Golf.

Es ist jetzt sehr heiss. Die Sonne spiegelt sich auf den anderen Autos. Auf meinem Arm steht Sekurit. Das ist der Schatten. So wie hier muss es in einer Brennstoffzelle sein. Unser Auto riecht noch mehr nach Auto als heute morgen. Die Hose klebt an meinen Beinen. In meinem Kopf sind nur noch drei Fragen: Krieg ich noch was Süsses? Wohin jetzt wieder mit dem Popel? Und:

«Wie lange noch?»

Mit jeder Stunde ist ein Vokal hinzugekommen: «Wie laaaaange noooooch?» Oder: «Sind wir bald daaaaa?»

Auf dem Pannenstreifen steht ein gelbes Auto vom ADAC. Ach ja, die ADAC-Plakette an unserer Windschutzscheibe!

«Maaamaaa, ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist gelb!»

«Die Sonne?»

«Nee, die ADAC-Plakette!»

Ich gucke mir noch fünf Minuten die ADAC-Plakette an. Dann wird auch das langweilig. Ich mache die Augen zu. Aber ich sehe trotzdem die ADAC-Plakette. Und Tankstellen. Schenker. Stinnes. Linde. Long Vehicle. Golf. Kadett. Golf. Golf. Kadett. Golf. Kadett. Man, bin ich müde, ich glaub ich schl...golf. Golf. Kadett. Kagolf. Golfett. 1000 : 870. Achtung, Stau am Long Schenker. Tankstinnes. Ist die Tür abgeschlossen in Ampuriabrava? Hat sich Frau Antje drum gekümmert. Sind alle Fenster zu auf der Tankstelle da? Da? «... da.»

«W-w-was, Mama?»

«Wir sind gleich da.»

Oh ja, wir sind da. In irgendeiner Stadt in Frankreich. Da wollen meine Eltern übernachten.

Und morgen fahren wir weiter.

 

 

VERREISEN. Sind wir bald da? Von Henning Sussebach erschien in DIE ZEIT Nr. 31/2002 und als Zweitveröffentlichung im Juli 2002 auf URLAUB_online (http://www.wortwerk.ch/urlaub)
Copyright beim Autor und [wortwerk] (info@wortwerk.ch)

 

 

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